Dienstag, 1. Februar 2011

Was macht eigentlich Dr. Dirk Neumann vom Tierpark Kalletal?

Cornelia Kurth

Sein Leben lang hatte er mit Wölfen zu tun, Dr. Dirk Neumann (61), der ehemalige Leiter des Tierparks Kalletal. Seine europaweit einzigartige Wolfsschule war in ganz Deutschland berühmt und viele Besucher aus dem Schaumburger und dem Lipper Land erlebten hautnah mit, wie er im Jahr 1995 eine Gruppe kanadischer Wolfsbabys mit der Flasche aufzog, wie sie ihre ersten Gehversuche vor seinem Büro im Kalletaler Tierpark machten, dann in einem großen Wildgehege herumtollten und schließlich zur "Schule" gingen, quirlige Kerle, die lernten, wie man zur Freude des Publikums Kunststücke vorführt, und die dabei langsam erwachsen wurden.

Inzwischen existiert der kleine Tierpark nicht mehr. Dort, wo neben den Wölfen auch Tiger, Bären, die lustige Truppe der Paviane, australische Dingos und die beiden Schimpansen Fritz und Friederike lebten, erstreckt sich nun eine Ruinenlandschaft aus verlassen Käfigen und verwildertem Gelände. Es war ein echtes Drama, das Ende des Tierparks, der im Sommer 2009 verkauft worden war an einen Besitzer, dem dann aber die Erlaubnis zur Haltung von Wildtieren abgesprochen wurde.
Dirk Neumann war schon nicht mehr persönlich dabei, als seine ehemaligen Schützlinge in unterschiedliche Auffangstationen vermittelt wurden, nachdem zuvor die Gefahr bestanden hatte, dass sie alle eingeschläfert werden müssten. Kein Zoo interessiert sich ja für alte Tiere, die keinen Zuchtstammbaum aufzuweisen haben. Nur durch den Einsatz verschiedener Tierschutzorganisatoren und vor allem des Veterinäramtes gelang es dann doch, allen Bewohnern des Tierparks ein neues Zuhause zu verschaffen.
Ob noch einer der Wölfe aus seiner Wolfsschule lebt, der Tierarzt weiß es nicht. Die Wolfsgeschwister waren ja mit ihrem Alter von inzwischen 14 Jahren bereits richtige "Opas", als er sie am Nikolaustag 2008 zum allerletzten Mal in die "Schule" rief, dem umzäunten Gehege inmitten ihres riesigen Auslaufs. Noch einmal sprang Blacky, der Leitwolf, auf Neumanns Schultern, balancierte Wum über einen Holzbalken, gab Mammut, der "Küsschenwolf", ihm einen Kuss auf den Mund. Dann wurde die Wolfsschule geschlossen.

Nur noch drei der gelehrigen Tiere lebten, als die Geschäfte des Tierparks im Frühjahr 2010 abgewickelt wurden. Mit viel Glück gelang es, sie in eine walisische Auffangstation zu verbringen, wo sie nun ihr Gnadenbrot erhalten. Auch ihre ehemaligen Mitbewohner aus dem Kalletaler Tierpark leben nur noch zum Teil in Deutschland, die Dingos zum Beispiel in Sachsenhagen, die Bären Ida und Katja im Bärenwald Müritz.
Die Tiger kamen in eine niederländische Auffangstation, ebenso wie die alten Schimpansen Fritz und Friederike. Diese beiden Menschenaffen, starke Persönlichkeiten, die in den letzten Jahren eine enge Bindung zu ihrem ehrenamtlichen Tierpfleger Jan Hoberg aufgebaut hatten, sie litten sehr unter dem Stress des Umzuges aus der vertrauten Umgebung. Ein Dokumentarfilm von spiegel.tv zeigt eindrucksvoll, wie genau sie wahrnahmen, dass sich alles um sie herum verändert. Fritz und Friederike waren die letzten Tiere, die den Tierpark Kalletal verließen.

Und der Wolfslehrer, wie geht es ihm? "O - ich genieße meinen Ruhestand durchaus", meint er. "Es war schon so lange abzusehen, dass die Besitzer des Tierparks ihn nicht mehr halten konnten und mir die Pacht kündigen würden. Ich bin froh, dass es nun ein Ende gefunden hat."
Er wandere oft stundenlang mit seinem Hund durch die Natur, besuche ab und zu die Zoos in der Umgebung und vor allem arbeite er an seinen Vorträgen über Wölfe und die Wolfsschule. Auf der Internetseite "www.wolfsschule.de" kann man solche Vorträge buchen. Und dabei springen sogar Wölfe herum, Blacky, Wum, Shy, Mammut und die anderen. Glücklicherweise gibt es einen Film, der ihr Wolfsschulleben dokumentiert. Ganz und gar zu Ende ist es mit der Wolfsschule also nicht.

Sportstammtisch Rinteln - die wirklich "Alten Herren"

Sportstammtisch Rinteln - die wirklich "Alten Herren"

Von Cornelia Kurth

Was für eine vergnügte Runde alter Herren, die sich da im "Stadt Kassel" versammelt. Zwölf Männer um die 75, einige sogar weit über 80 Jahre alt, die so vertraut miteinander scherzen, als seien sie Brüder aus einer Großfamilie. Und sind sie es nicht auch? Fußballbrüder - ja! Jeder von ihnen ist engverbunden mit dem SC Rinteln, die meisten seit ihrer frühen Jugend, kurz nach Kriegsende: Spieler, Schiedsrichter und natürlich Gerd Witte, einstiger Wirt des "Goldenen Sterns", der langjährigen Vereinskneipe des SC. Seit 25 Jahren treffen sie sich zum Seniorenstammtisch, heute ist es das 300. Mal. Und natürlich haben sie allerlei zu erzählen vom Fußball in Rinteln, wie er sich nach dem Stillstand im Krieg und nach den Hochwassern, die den Platz am Steinanger verwüstet hatten, wieder zu einem Spiel entwickelte, das die Jungs der Stadt in seinen Bann zog.

Dabei war das Fußballspiel bei vielen Eltern ganz und gar nicht beliebt. Wie oft gingen die kostbaren Hosen dabei kaputt, und was noch schlimmer war: Die Schuhe! Echte Fußballschuhe hatte sowieso fast niemand. Woher auch sollte man sie bekommen in der Nachkriegszeit. Es konnte sich ja schon glücklich schätzen, wer überhaupt ein paar solide Schuhe besaß. "Ich hatte eines, ein einziges Paar", erzählt Rolf Wedemeyer (75). "Und weil das so wertvoll war, durfte ich nicht mitspielen. Meine Mutter kontrollierte genau, ob sich irgendein Fußballabdruck darauf finden ließ. Wenn ja, bekam ich richtig Ärger!"

Herbert Eckel, genannt "der Schöne", um ihn von seinem Bruder Günter zu unterscheiden, der "Eckel der Jüngere" hieß, er ließ sich die beim Fußball ramponierten Schuhe heimlich von seinem Onkel reparieren. Der schlug kleine Holzpflöcke ein, wenn sich die Sohle mal wieder gelöst hatte. "Aber irgendwann sagte er: 'Neffe - es passt kein neues Loch mehr rein!", so Herbert Eckel. "Tja, da gab es dann eine Zwangspause." Rolf Wedemeyer stand überhaupt nur am Spielfeldrand und sah sehnsüchtig zu. "Lern lieber Klavier!", meinte seine Mutter. "Da hast du später was davon!" Das hatte er auch. Neben der Arbeit in seinem Getränkelager spielte er jahrzehntelang auf den Festen in der Umgebung als Musiker auf.

Für Heinz Hesse, damals Schiedsrichter, danach 17 Jahre lang Obmann im Spielausschuss und dann tätig im Obersten Verbandssportgericht, war die Sache mit den Schuhen nicht so das Problem. Er musste die Autorität aufbringen, die jungen, übermütigen Spieler zur Raison zu rufen. "Wieso denn, was ist denn?" heißt es lachend in der Stammtisch-Runde. "Kein Einziger von uns hat je eine Rote Karte bekommen! Und auch keine Gelbe!" Na ja - wie hätte das auch sein sollen?

Niemand, der vor 1970 Fußball spielte, fing sich jemals eine Rote oder Gelbe Karte ein. Diese praktische und unmissverständliche Art der Verwarnung gibt es erst, seit bei der WM 1966 das größte Chaos entstand, weil ein Spieler so tat, als habe er den Platzverweis des Schiedsrichters nicht gehört und einfach auf dem Spielfeld blieb. Vor der anschließenden Neuregelung sprachen die Schiedsrichter ihre Verwarnungen immer nur mündlich aus. "Im schlimmsten Fall schrie das halbe Publikum: "Ab nach Hause!'", sagt Heinz Hesse.

Wurde ein Spieler so verletzt, dass er nicht mehr mitspielen konnte, war das ein doppeltes Ärgernis für die Mannschaft, denn es durfte kein Ersatz eingewechselt werden. "Wir waren manchmal nur noch neun Spieler auf dem Platz", erzählt Herbert Eckel. "Wenn eine Seite nur noch sieben Spieler hatte, wurde das Spiel abgebrochen." An so eine Situation kann sich aber keiner erinnern. "Wir haben alles in allem fair gespielt", betonen sie. "Schließlich sahen wir alle uns ja ständig wieder!"

Nach jedem Spiel auf dem Platz am Steinanger liefen sie in ihren verschwitzten Trikots und mit dem wertvollen Fußball unterm Arm durch den Blumenwall zurück in die Stadt, zum Marktplatz, in den "Goldenen Stern" (jetzt die "Marktwirtschaft"), wo Vereinswirt Gert Witte die Rintelner und die Gegnermannschaft empfing. Während sie sich im Saal umziehen und vor den dort aufgestellten Waschschüsseln waschen konnten, tischte der Wirt die leckeren Mettbrötchen aus der Schlachterei Lehmeier auf. Die hatte Karl-Heinz Lehmeier, der bis zu seinem Tod ebenfalls zum Stammtisch gehörte, immer großzügig gespendet, mit einer der vielen Gründe, warum er später zum Ehrenvorsitzenden ernannt und der "Karl-Heinz Lehmeier"-Preis gestiftet wurde.

Die Vereinskneipe war lange gleichzeitig auch das Vereinsbüro, mit dem Wirt als Organisator, immer die Zigarette in der einen, den Telefonhörer in der anderen Hand. Er ist rund zehn Jahre älter als die anderen Stammtischler, kam erst 1948 Jahre aus der englischen Kriegsgefangenschaft zurück und trat dann gleich in die 1. Herrenmannschaft ein. "Na - Fußball haben wir da auch gespielt, und wie! Und wahrscheinlichen mit einem besseren Ball als Leute hier, von den Engländern gestiftet, immerhin." Klar ist, dass die ersten Nachkriegsfußbälle nichts anderes als aus Stofffetzen zusammengebastelte Filzkugeln waren.

Die Geschichten schwirren herum im "Stadt Kassel" - und je mehr Bier und Schnaps das Geburtstagskind Albert Wippermann (78) ausgibt, desto mehr necken sich die Stammtischbrüder. "So machen wir es immer", sagt Albert Wippermann, der fast drei Jahrzehnte als Kreiskassierer und als Kassenwart für den SC Rinteln agierte, nachdem er zuvor als gefährlicher Gegenspieler dem TuS Engern angehört hatte (die besseren Mettbrötchen in Rinteln hätten es ihm damals angetan, witzeln die anderen, deshalb der Vereins-Wechsel). "Wer Geburtstag hat, gibt ein Essen aus und Getränke so lange, bis er dem Wirt das Zeichen 'Daumen runter' gibt. Von da an zahlt jeder für sich selbst." Noch lächelt er vergnügt zu Ernst Brand herüber, dem "Stadt Kassel"-Wirt. Der sitzt auch mit am Stammtisch, aus Solidarität, denn im Rintelner Verein hat er nie mitgespielt (aber in Grupenhagen). "Wäre auch gar nicht gegangen - so große Fußballschuhe für seine Größe 48 hätten wir nicht auftreiben können", sagt Horst Ladage neben ihm.

Horst Ladage (74) - "ein guter Mann, ein überragender Mann", wie Rolf Wedemeyer unter Zustimmung aller betont - er spielte bereits mit 17 Jahren in Rintelns erster Herrenmannschaft, schoss zahllose Tore und ließ sich in seiner 20jährigen aktiven Zeit treu niemals von anderen Vereinen abwerben. "Nun ja - damals war es noch eine Ehre, für Rot-Weiß zu spielen", meint er grinsend. "Heutzutage allerdings...". Ja - über den aktuellen Zustand des SCR machen sich alle gerne lustig. "Oder sagen wir so", ruft Rolf Wedemeyer dazwischen: "Früher haben wir uns immer über die Spiele des SC unterhalten - jetzt reden wir nur noch allgemein über die Bundesliga..."

Im Übrigens ist gar nicht immer nur Fußball das Thema in der Stammtischrunde. Seit 1992 gibt es eine eigene Radfahrertruppe, die sich einmal im Jahr aufs Rad schwingt und lange Touren durch Deutschland macht, am liebsten entlang der Flüsse. Klaus Ide, der Jüngste am Stammtisch, tüftelt diese Radtouren aus und ist liebenswürdigerweise darauf bedacht, sie nicht allzu hoch in die Berge zu führen. In diesem Jahr, wenn der SCR seinen 100. Geburtstag feiert, machen sich die Radfahrer zum 20. Mal auf die Reise.

Fußball spielen sie alle ja schon lange nicht mehr. Herbert Eckel hörte auf, als sein kriegsverletzter Vater ihn darum bat, an den Wochenenden auf seinen Taubenschlag aufzupassen. Der einbeinige Mann schaffte es nicht mehr, die Leiter zum Dach hochzusteigen. "Natürlich habe ich meinem Vater gehorcht, alles andere wäre undenkbar gewesen", meint Eckel. "Aber mit den Vereinsspielen war es dann vorbei." Bei den anderen waren es entweder die Berufsausbildung, die zuviel Energie in Anspruch nahm, oder die Heirat, wie zum Beispiel bei Gert Witte. "Ja, du, Horst, du hast gut reden", ruft er zu Horst Ladage herüber, der so lange als Spieler dabei war. "Du bist ja auch noch Junggeselle!"

Vor 25 Jahren, als sich der Stammtisch anlässlich des 75. Vereinsjubiläums des SC Rinteln zusammenfand, kamen über 30 ehemalige Spieler. "Seitdem ging es nur noch bergab", sagt Rolf Wedemeyer. Obwohl alle zum 300. Stammtisch versammelten mindestens zehn Jahre jünger wirken, als sie es in Wirklichkeit sind, die Zeit schreitet voran. Krankheit, auch Tod dezimierte die brüderliche Runde, Neuzugänge, wie etwa derjenige von Ernst Brand, der eintrat, als sein Lokal zur Stammwirtschaft erwählt wurde, sind sehr selten. "Vielleicht sollten wir nicht mehr so viel trinken, dann werden wir alle hundert Jahre alt", gibt Albert Wippermann zu bedenken, der heute alles ausgibt. Den Daumen runter hält er trotzdem nicht.

Fängt man was? Fängt man nichts?

Im Sommer sieht man sie eigentlich immer irgendwo am Weserufer, die gemütlichen Angler, wie sie sich ein kleines Lager eingerichtet haben und geduldig die Angel ins Wasser halten. Auch an den Kiesseen sind sie für Spaziergänger ein vertrautes Bild. Meistens schleicht man sich an ihnen vorbei, weil man Angler ja nicht ansprechen soll: Zuviel Unruhe am Ufer vertreibt die Fische, heißt es (was so gar nicht stimmt). Was aber machen die Angelfreunde im Winter? Hat man da überhaupt die Chance, einen Fang zu machen?

"Klar, natürlich, durchaus", sagen da alte Anglerhasen wie Karl Tiedermann, der Vorsitzende des Fischereivereins in Rinteln, oder Wilhelm Wehrhahn aus dem Vorstand vom Sportfischerverein Hameln. Aber man hört doch heraus, dass die Sache nicht ganz einfach sein würde. Im eiskalten Weserwasser schwimmen die Fische nur träge umher. Ihr Stoffwechsel ist heruntergeschraubt, ihr Nahrungsbedarf daher gering, und man muss schon viel Glück und Geschick haben, um sie an ihren bevorzugten Stellen - dort, wo das Wasser möglichst ruhig steht - aufzuspüren und mit Made oder Regenwurm heranzulocken.

"Nach dem Krieg, ja, da haben wir selbstverständlich auch im Winter geangelt. Wir brauchten was zu Essen und was zum Tauschen", erzählt Wilhelm Wehrhahn, der damals 12 Jahre alt war und mit der Angelei dazu beitrug, dass es seiner Familie in der schweren Zeit besser ging. "Plötzen, Brassen und die jetzt sehr seltene Zärbe, die konnte man immer fangen, weil sie nicht in Winterruhestellung gehen. Und auf den überschwemmten Wiesen, da, wo unter dem Wasser Grasbewuchs war, da hatten wir fein raus, wie wir die Fische kriegten, die sich aus dem starken Strom zurückzogen."

Wenn das Wasser ansteigt, so hoch, wie es auch jetzt gerade der Fall ist, und der Fluss voller besonders kaltem Schmelzwasser ist, dann allerdings werden die Fische "maulig". Die wechselwarmen Tiere benötigen in solchen Zeiten nur ein Zehntel an Nahrung, sie trudeln in kleinen Rudeln nahe am Boden umher und man sieht sie auch nicht im verschlammten Wasser. Nur echten Könnern gelingt es, sie an stilleren Stellen mit winzigen Maden und etwas Sägemehlstreu neugierig zu machen und an den Haken zu holen.

"Früher habe ich immer auch im Winter geangelt", sagt Karl Tiedermann. "Aber das tue ich mir schon seit 20 Jahren nicht mehr an!" Die Kälte, matschige Ufer, an denen man leicht abrutschen kann und die Aussicht, dass man vielleicht ganz ohne Fang nach Hause kommt, nee, muss nicht sein. "Die Weser führt ja auch viel weniger Fisch als vor Jahrzehnten", meint er. "Dabei ist sie noch ein relativ sauberes Gewässer. Ob Sommer oder Winter, es ist kein Vergleich mehr zu den alten Zeiten."

Trotzdem steht er gerade an der hoch und schnell vorüberschießenden Weser, im stillgelegten Kreishafen, auf der langgestreckten Landspitze, die man über das Grundstück des Fischereivereines erreicht. Tage zuvor hatte er im Verein herumgefragt, wer wohl - Winter hin oder her - eine kleine Angeltour unternehmen und Barsch, Rotauge oder Rotfeder jagen würde. Sämtliche erfahrenen Weserfischer hatten lächelnd abgelehnt. Aber Sascha Kluck und seine Frau Doris sagten zu, ein junges Paar aus Rinteln, das seit drei Jahren mit aller Leidenschaft der Angelei zugetan ist.

Gut gelaunt stapfen die beiden in Gummistiefeln über das nasse Gras bis ans Weserufer heran. Es ist ein unglaublich schöner Samstagvormittag. Die Sonne glitzert auf dem Wasser, Enten lassen sich den Fluss heruntertreiben, fliegen wieder aufwärts und treiben erneut herab. Wie still es ist hier am alten Hafen, wo zwischen Landzunge und Hafenmauer das Wasser ruhiger steht. "Sieh da, ein Haubentaucher", sagt Doris Kluck. "Und er taucht. Das bedeutet, dass er was zu fressen findet."

Gelassen holen sie ihre Angeln hervor und öffnen eine kleine Schachtel voller Pinkys, den winzigen, weißen Maden, die man nur mit Feingefühl an den Haken anbringen kann. Heute wird mit "Pose" geangelt, mit einer Art bunten Boje, die unter Wasser gezogen wird, sollte ein Fisch anbeißen. Große Fangchancen rechnen sich auch die beiden nicht aus, aber was soll's: "Man geht ja immer so los: Fängt man was? Fängt man nichts?", sagt Doris. "Ich angle auch im Winter gern. Es ist nie verlorene Zeit, es ist immer nur schön, so in der Natur zu stehen, dazu zu gehören, auch am Morgen, wenn der Nebel hochsteigt, oder wenn die Eisvögel sich laut beschweren, dass wir in ihr Revier eindringen."

Auch Sascha Kluck wirkt einfach glücklich, selbst als schon über eine Stunde vergangen ist und höchstens vorbeitreibende Wasserpflanzen die Pose mal zum Zucken brachten. Karl Tiedermann, der auf einen Sprung vorbeikommt, kann es sich ein grinsendes "Na - noch nichts im Eimer?" nicht verkneifen. Da lacht Sascha nur: "Es wäre ja gar nicht gut, wenn wir jeden Tag mit fetter Beute heimkämen. Die Jagd muss doch spannend bleiben!" Er zieht die Schnur raus und guckt nach, ob die Pinkys noch leben. Die Fische werden durch den Geruch des Köders angelockt, und die richtige Duftnote hat der nur, wenn die Pinkys nicht schon tot und kalt herunterhängen.

Seltsam, dass es Spaß macht, die kleine bunte Pose zu beobachten, auch wenn jetzt selbst ein Laie ahnt, dass es wohl nichts werden wird mit Rotauge oder Plötze an der Angel. Leise surrt die Angelschnur, wenn sie eingeholt und wieder ausgeworfen wird. Wohlwollend betrachtet Karl Tiedermann dabei das Hightech-Rüstzeug des Anglerpärchens. "Wenn ich an meine erste Angel denke", sagt er. "Das war ein Haselstock, auf den ich, damit er biegsamer reagiert, eine Speiche vom Regenschirm montiert hatte. Die Schnur? Ein Bindfaden! Und für den Haken nahm ich einfach eine umgebogene Stecknadel."

Da hatte es der Hamelner Wilhelm Wehrhahn damals leichter. Nach dem Krieg gab es in der Stadt zwei Geschäfte für Anglerbedarf, und da er und sein Großvater so gute Kunden waren, bekamen sie dort die raren Haken und Posen. "Eigentlich ist es Wahnsinn, dass man heutzutage viele tausend Euro ausgibt für die Ausrüstung", sagt er. "Aber die Zeiten, dass man an einem Tag auch mit viel einfacherem Rüstzeug 40 oder 50 Pfund Fisch aus der Weser holen konnte, die sind einfach dabei." Und dann kommt er auf sein liebstes Hass-Thema zu sprechen, das auch Karl Tiedermann jederzeit auf der Zunge liegt: den Fischräubervogel Kormoran.

Dieser alte Streit zwischen Naturschutz und Anglerglück. Die Kormorane, fast ausgerottet, bevor sie auf die Rote Liste gesetzt wurden, haben sich in ihren Beständen so gut erholt, dass sie den Fischern immer nur ein Ärgernis sind. Wenn es nach ihnen ginge, dann dürften die Raubvögel wieder abgeschossen werden, so große Konkurrenz sind sie geworden. "An der Aue, der Exter und natürlich an den Fischteichen räubern sie ungehindert", so Tiedermann. "Aber man darf ja nichts sagen...". Wilhelm Wehrhahn sieht das ähnlich: "Wir Angelfischer freuen uns geradezu über das Eis auf den Teichen - dann kommen die Kormorane nicht an die Fische ran!"

Eisfischen - ja, auch das ist im Winter ein Thema. Wehrhahn und Tiedermann haben in ihrem Leben genug Erfahrung damit gesammelt, wie man den Schnee vom Eis entfernt, den Eisbohrer ansetzt, um ein 30 Zentimeter breites Loch zu bohren und dann mit ganz feinem Geschirr darauf hofft, dass sich neugierige Fische von dem unerwarteten Licht und den ins Wasser gestreuten Maden anlocken lassen. Um nicht all zu sehr zu frieren, trug Wehrhahn immer eine Lammfellunterhose und an den Füßen dicke Filzstiefel. Sascha und Doris können da nicht mitreden. Im Rintelner Fischereiverein ist das Eisangeln als zu gefährlich schon lange verboten.

Die beiden sind immer noch wohlgemut. Tatkräftig packen sie ihr Zeug zusammen und stapfen über die matschige Landzunge zurück bis in den Hafen, wo sie es noch einmal direkt an der Kaimauer versuchen wollen, dort, wo sich auch die ganze Zeit der Haubentaucher herumtreibt. "Mich packt jetzt doch der Ehrgeiz!" meint Doris Kluck.

Ihr Mann hat unterwegs einen Regenwurm gefunden, den er in zwei Teile teilt - für jeden eine Hälfte. "Irgendwie hat man beim Angeln immer was zu tun", sagt er. "Als wir damit anfingen, dachten wir, wir würden nun die großen, persönlichen Gespräche führen. Aber nein - es gibt Anglertage, da reden wir keine fünf Sätze miteinander." Wenn die beiden ehrlich sind, dann ist es genau das, was sie am Angeln so lieben: Dieser Abstand vom Alltag, wo Doris bei der Arbeit auf der Intensivstation ist und Sascha im Lärm seiner Tischlerei steht.

Fast drei Stunden sind jetzt vergangen an diesem sonnig-kalten Vormittag. "Man findet ja kein Ende!", sagt Doris. "Das ist immer so!" Läge nicht ein Treffen mit den Vereinskollegen an, die beiden hätten vielleicht bis zum Abend dagestanden, geduldig ihre Köder ausgeworfen, den Vogelschwärmen am hohen Himmel nachgeblickt und sich einfach in der Zeit treiben lassen. Gefangen haben sie nichts an diesem Wintertag. Trotzdem sehen sie rundherum zufrieden aus.

Sonntag, 16. Januar 2011

Yoga - Mantras und der Weg zum eigenen Selbst im "Yoga Vidya" - irgendwie

Von Cornelia Kurth

"Mantras gesungen? Du? Das ist wohl ein Witz!" Ja, so reagieren meine Freunde, wenn ich es ihnen erzähle. Aber es ist wahr: Ich sang Mantras, zusammen mit vielen anderen Leuten, die mit mir im Kreis saßen, angeleitet von einem kleinen rundlichen Lehrer, der dabei ein altes Schifferharmonium spielte. "Shiva Shiva Shambho": Es bewegte mich sehr - wider Erwarten. Zuvor nämlich hatte ich mich ziemlich verloren gefühlt in "Europas größtem Zentrum für Yoga, Ayurveda und Meditation" in Bad Meinberg, dem "Yoga Vidya", das wir am Tag der offenen Tür besuchten. Mein Begleiter war gleich geflohen, als ihm in der Eingangshalle des siebenstöckigen Gebäudekomplexes der intensive Duft von indischen Räucherstäbchen entgegenschlug, während ich mich durch labyrinthartige Gänge und vorbei an Räumen mit unverständlichen indischen Namen zu einem Einführungskurs ins Hatha-Yoga begab.

Seit einiger Zeit gehe ich ins Fitnessstudio, radle dort brav eine halbe Stunde, ziehe ein paar Gewichte und versuche mich an Dehnungsübungen, bei denen ich mir immer neu unsicher bin, ob ich es überhaupt richtig mache. Könnte da nicht Yoga eine sinnvolle Ergänzung sein? Es war die Redaktion, die mich auf die kleine Reise ins idyllische Städtchen Bad Meinberg sandte, im Grunde hatte ich keine Wahl. Aber ich war neugierig, durchaus. Ich gab mir Mühe, offen zu sein und mich nicht beeinflussen zu lassen von den sarkastischen Bemerkungen meines Begleiters, den ich während der einstündigen Autofahrt durchs schöne Extertal zu überreden versuchte, sich mit mir gemeinsam auf das einigermaßen unbekannte Terrain zu begeben. "Gesundheitswahn vermischt mit spiritueller Spinnerei, damit kannst du mich jagen", grummelte er. "Aber deine Rückenprobleme", wandte ich ein. "Dieses Hatha-Yoga soll gerade für den verspannten Rücken wahre Wunder wirken. Sogar die Krankenkassen sehen das so." Nichts zu machen - er zog es vor, sich die Zeit mit einem Spaziergang zu vertreiben.

Sheila, so heißt die Yogalehrerin, eine riesengroße blonde, schon ältere Frau, die zu spät kommt, weil sie den Kursbeginn in falscher Erinnerung hatte. Fröhlich begrüßt sie uns erwartungsvolle Teilnehmer mit den Worten: "Eigentlich bedeutet Yoga auch Pünktlichkeit, na ja ..." Die zehn Teilnehmer lächeln gnädig und ich entdecke, dass Sheila total abgewetzte weiße Socken trägt. Komisch, sie weiß doch, dass man vor dem Übungssaal seine Schuhe ausziehen muss. Und wie sie umständlich rumtüdelt mit dem Overheadprojektor. Soll Yoga nicht innere Ruhe und Konzentration fördern?

Während Sheila erklärt, dass der göttliche Kern des Yoga das Universum in uns und damit unser eigentliches Selbst berührt, stelle ich fest, wie unglaublich bequem diese Yogakissen doch sind. Gefüllt mit Körnern, passen sie sich den Körperformen so perfekt an, dass ich schon jetzt sicher bin, wenigstens eine klare Erkenntnis aus meinem heutigen Erlebnis davontragen zu können: Ich will so ein Kissen, unbedingt. Meine Pobacken brauchen nämlich Schonung seit der Fahrerei auf dem Fitnessrad. Selten saß ich so entspannt und bequem wie jetzt hier auf dem Fußboden.

Die Yogalehrerin allerdings wirkt gar nicht entspannt. Nach und nach merkt sie, dass ihr Einführungsvortrag nicht so gut ankommt, weil er allzu allgemein vom Yoga handelt: Über die fünf Säulen, bestehend aus Yogastellungen, Atemübungen, Entspannung, richtige Ernährungsweise und Meditation, und über die Chakren, die sieben Hauptenergiezentren des Körpers, welche durch die Yogastellungen "gereinigt" werden. "Ihr kennt ja die Chakren?", fragt sie, und jeder nickt.

Einige der Teilnehmer sind offenbar bereits erfahrene Yogis, die gerne etwas Genaueres über das Hatha-Yoga erfahren würden. Mir dagegen schwirren Begriffe wie "Asanas" (körperliche Übungen), "Pranayama" (Atemübungen) und "Hatha" (Anstrengung, Kraft) um die Ohren. Sheila stellt gerade fest, dass sie die Reihenfolge der zwölf Yogastellungen durcheinandergebracht hat. Ein Mann und eine Frau verlassen still den Raum. Aber da verpassen sie was, denn nun führt Sheila uns einen Kopfstand vor, zur Reinigung des Kronen-Chakras. Auf die Unterarme gestützt, den Kopf auf den Boden, hebt sie die Beine erst bis zur Körpermitte und dann ganz nach oben. "Das kann man locker zehn Minuten durchhalten", meint sie etwas außer Atem und mit rot angelaufenem Gesicht. Nicht sehr überzeugend.

Ach - ich weiß, es ist ungerecht, sich lustig zu machen über jemanden, der wohl keinen so guten Tag hat. Das "Yoga Vidya"-Zentrum zieht jährlich Tausende von Gästen an, die sich auf dem großen Gelände oft auch einmieten, um an Yogaseminaren teilzunehmen, sich zum Yogalehrer ausbilden zu lassen oder den Vorträgen berühmter Lehrer zu lauschen. Das Haus besitzt einen ausgezeichneten Ruf, wird als gemeinnütziger Verein geführt und trägt mit seinen deutschlandweit insgesamt 60 Yogazentren dazu bei, die uralte indische Lehre über Entspannung und Meditation auch in Europa lebendig zu erhalten.

Trotzdem würde ich das Zentrum jetzt am liebsten verlassen. Yoga ist eben nichts für mich, ich bin zu rational eingestellt und meinetwegen auch nicht wirklich geöffnet für etwas so sehr einer anderen, ungewöhnlich spirituellen Kultur Verhaftetes. Mag sein, dass Übungen wie der "Fisch", der "Flug" oder die "Krähe" mein Herz- und Kehlchakra kräftigen - ich will jetzt irgendwo einen Kaffee trinken. Den gibt es aber nicht im "Yoga Vidya". Dafür aber Brennnessel- und Salbeitee und - warmes Ingwerwasser. Das schmeckt frisch, leicht scharf und insgesamt so köstlich, dass neue Energie in mir aufsteigt. "Ich gehe in die 7. Ebene!", sagt eine Frau neben mir. Und ihre Freundin: "Ja, ich auch, die 7. Ebene ist die tollste von allen!"

In dieser 7. Ebene, ganz oben im pyramidenförmigen Bau des Hauses findet das Mantra-Singen statt, das Kirtan. Ein junger Mann, eher klein, eher unsportlich, eher etwas finster wirkend, fährt im Fahrstuhl mit nach oben. Dass gerade er der Kirtan-Lehrer sein würde, hätte ich niemals gedacht. Der Raum ist voller Menschen jeden Alters, einige haben sich in weiße Decken eingewickelt. Ein Büchlein mit Liedtexten liegt aus und ich lese geheimnisvolle, zum Teil 4000 Jahre alte Texte, Gebete, die sich an indische Gottheiten richten, allen voran den drei höchsten, Brahma, den Schöpfer, Wishnu, den Bewahrer, Shiwa, den Zerstörer.

Om - das berühmte Om, der Urlaut, Klang der Klänge, mit ihm eröffnet Lehrer Marcel den Workshop. Vor ihm steht ein rechteckiger Kasten, ein kleines Harmonium, das mit einer Luftklappe per Hand angetrieben wird. "In der Bibel heißt es: 'Am Anfang steht das Wort'", sagt Marcel. "Im Yoga aber: 'Am Anfang steht der Klang'!" Er beginnt, und seine angenehme, warme Stimme löscht sofort alle Zweifel aus. Wir alle summen den Ton mit, die Schwingungen erfüllen Kehle und Kopf, und als der Lehrer anschließend noch ein kleines Mantra singt, da klingt es eigenartig vertraut, wie ein mittelalterlicher Mönchsgesang.

Mantras werden immer und immer wiederholt, so lange, bis alle Gedanken aus dem Kopf vertrieben sind, man nur noch den Klang im Körper verspürt und eine Ahnung davon entsteht, was es bedeuteten würde, den ewigen Kreislauf der Wiedergeburt zu verlassen und vereint zu sein mit dem großen Klang des Universums, dem Brahman, von dem wir alle ein Teil sind.

"Devi, Devi, Jagan Mohini", das singen wir, begleitet von der vollen Lehrerstimme und den melancholischen Tönen des Harmoniums. Es ist wie eine Liturgie, die ruhig immer weitergehen kann, so sanft ist der Gesang, so weich die Worte. Man müsse nicht wissen, was sie bedeuten, erklärt Marcel, die Schwingungen seien es, denen man sich hingeben solle. Sie entsprächen den Grundschwingungen des Universums, deshalb sei es so einfach, mitzuschwingen und den Kopf von störenden Alltagsgedanken zu befreien. "Oh Göttin, Göttin, die Du die ganze Welt bezauberst", das ist die Übersetzung des Textes. Auch schön.

Schwingt ein Mantra langsam doch aus, dann es ist so, als wenn eine angenehme Massage zu Ende geht. Man erwacht wie aus einem kleinen Traum. Zwischen den einzelnen Liedern spricht Marcel über das Yoga, den Hinduismus und darüber, wie sich die zahllosen Götter Indiens letztlich doch in einem einzigen Göttlichen, dem Brahman, zusammenfinden. Auf dem Weg zum Gruppenraum war ich an Zimmern vorbeigekommen, aus denen Mantra-Klänge herausdrangen, und ich hatte still gelacht. Jetzt sehe ich ein, dass dort einfach meditiert wurde. "Unzählige Wege führen zur Selbsterkenntnis", meint Marcel. Ich bin froh, dass mich ein Zufallsweg in seinen Workshop geführt hat.

Mein Begleiter erwartete mich schon vor dem "Yoga Vidya"-Haus, erstaunt, dass ich ihm so gut gelaunt entgegenkam. Auch er war guter Laune, hatte er doch stundenlang die winterliche Hügellandschaft rund um das kleine Bad Meinberg durchwandert. "Und - woran hast du gedacht?", frage ich. "An nichts", sagt er. "Irgendwie macht das Wandern den Kopf so frei." Marcel hat schon recht: Es führen wirklich viele Wege zur inneren Harmonie. Man muss sie nur finden.

Hagen Stehr - Thunfische und eine Revolution in der Zucht

Von Cornelia Kurth

Zwei Bücher liegen immer am Bett des australischen Thunfischzüchters und Multimillionärs Hagen Stehr. Das eine ist die Bibel. "Die lese ich in den guten Tagen", sagt er. "Aus Dankbarkeit!" Das andere ist eines, von dem er meint, er sei der einzige Mensch in ganz Australien, der es überhaupt besitzt, nämlich die Memoiren des Generals George S. Patton, dem schillernden Helden des Zweiten Weltkriegs, der durch Mut und eiserne Disziplin entscheidend zum Sieg der Alliierten beitrug. "Der Mann hat etwas geschafft, genau wie ich. Wenn es mir schlecht geht, dann macht er mir Mut."

In den letzten Monaten hatte er durchaus Anlass, im Buch des Generals zu blättern. "Heute ein guter Plan ist besser als morgen ein perfekter Plan", oder "Tapfer ist, wer von seiner Furcht keine Notiz nimmt" - solche Zitate passen gut, wenn man wie Hagen Stehr inzwischen 50 Millionen Dollar investiert hat in ein Projekt, das, davon ist er überzeugt, die Zukunft des Fischereigewerbes absichern wird, ohne dabei die Meere weiterhin auszuplündern. Er züchtet den Southern Bluefin Thuna. Das ist der vor allem bei den Japanern geradezu fanatisch begehrte und vom Überfischen in seiner Existenz bedrohte Blauflossen-Thunfisch. Ihn in der Gefangenschaft zum Laichen zu bringen und die Jungfische dann auch noch erfolgreich zu ihrem gewaltigen Körpergewicht von etwa 200 Kilo aufzupäppeln galt lange als vollkommen unmöglich, ist der Bluefin Thuna doch ein praktisch unzähmbarer Wanderfisch, der auf seinen Reisen durch den südlichen Atlantik, den indischen Ozean und den Pazifik in rasender Geschwindigkeit Zehntausende Kilometer zurücklegt, bevor er die Geschlechtsreife erlangt.

"Uns blieb aber gar nichts anderes übrig, als unser Zuchtprojekt in Angriff zu nehmen", so Stehr. "Die Fangquoten wurden so drastisch reduziert, dass wir sonst vor dem Ruin stehen würden." Davon abgesehen geht Stehr davon aus, dass spätestens ab dem Jahr 2050 sowieso kein traditioneller Fischfang mehr möglich sein wird. "Die Nachfrage steigt stetig an, die Bestände aber gehen bei allen Fischarten radikal zurück. Wo soll der ganze Fisch für die Menschen herkommen?"

Als er vor 50 Jahren als junger Mann in Australien anlandete, im Fischerstädtchen Port Lincoln, musste er sich um solche Fragen nicht die geringste Sorge machen. Da war es eher Hagen Stehrs Familie in Deutschland, die äußerst besorgt war und nicht darauf zu hoffen wagte, dass aus ihrem Sprössling jemals etwas werden würde. Oft wussten seine Angehörigen nicht einmal, ob er überhaupt noch zu den Lebenden zählte.

Der Junge war nämlich mit 17 Jahren aus seinem Zuhause in Salzgitter abgehauen, um in Brake bei Bremen auf die Kadettenschule zu gehen und dann in die Welt zu ziehen, auf einem Walfangschiff mit Reiseziel Antarktis. Zusammen mit Freunden machte er sich auf den Weg nach Amsterdam, wo die große Walfangflotte lag. "Doch wir kamen zu spät und hatten dann den dummen Gedanken, bei der Fremdenlegion anzuheuern", erzählt er. Über Marseille wurden sie nach Nordafrika verschifft, um nach einer 16-monatigen Grundausbildung für die Franzosen in Algerien zu kämpfen.

Das war alles ganz undurchdacht, eigentlich ein einziger Wahnsinn. Als sich 1960 unter den jungen Leuten herumsprach, dass die Franzosen sich in Geheimverhandlungen mit der algerischen Regierung befanden, setzten sie sich von der Fremdenlegion ab, zwar versehen mit einer kennzeichnenden Tätowierung, aber ohne Papiere, die sie zurücklassen mussten. Hagen Stehr war nun ein Staatenloser, der durch die Länder zog und immer wieder auf Schiffen anheuerte, die er nach kurzer Zeit verließ. Länger als 30 Tage durfte er sich ohne Reisepass nirgends aufhalten und schließlich fasste ihn die australische Polizei in Port Lincoln und setzte ihn ins Gefängnis. Das war sein Glück.

Die Australier suchten tatkräftige junge Leute. Unter der Bedingung, in den nächsten sechs Monaten nicht durch Alkoholgenuss aufzufallen, bekam er endlich wieder einen Ausweis. Eigentlich wollte der Weltumsegler gar nicht in dem gerade mal 14.000 Einwohner zählenden, verschlafenen Städtchen bleiben. Doch nahm man den Seemann gerne in die damals aufstrebende Thunfischfängerei auf. Und dann war da noch Anna, eine Gerichtsangestellte, die seine Frau wurde. "O - das alles ist schon ein halbes Jahrhundert her und ich bin immer noch hier, am besten Ort der Welt mit dem besten aller Berufe und der besten aller Frauen."

Durch den Handel mit Fanglizenzen kam er zu Geld und kaufte sich sein erstes eigenes Schiff, dem das zweite und dritte folgte, bis er eine eigene Flotte zusammengestellt hatte, mit der er sich kampfeslustig in die Konkurrenz zu den anderen drei Fischereiunternehmen am Ort stützte. Zu Beginn der 1990er Jahre, als die Fischausbeute deutlich zurückging und die ersten Fangquoten für den Thunfisch festgesetzt wurden, schlossen sich die Unternehmer zusammen, sprachen die Fangrouten untereinander ab und suchten nach neuen Wegen, um der Nachfrage aus Japan gerecht werden zu können. Millionenschwere Investitionen würden sich lohnen, das war klar. Je knapper der Blauflossen-Thuna wurde, in desto schwindelerregendere Höhen stiegen die Preise für das feste, würzige Fleisch, aus dem in japanischen Restaurants Sushi- und Sashimi-Delikatessen bereitet werden.

Hagen Stehrs neue Methode, nämlich Jungfische zu fangen, in riesigen Netzen vor die Küste zu schleppen und dort bis zum Schlachtgewicht zu füttern, erwies sich zwar als sehr nützlich, um weiterhin wertvolles Fleisch anbieten zu können - es wurde immer schwerer, prächtige Exemplare durch reinen Fischfang zu gewinnen - doch führte diese Art des Farmens natürlich nicht zu einer Verbesserung der Populationsdichte. Wofür er aber vom Time Magazin zum Entwickler der zweitwichtigsten Erfindung des Jahres 2009 ernannt wurde, war sein Anlage, in der er hochgezüchtete Blauflossen-Thunfische zum Laichen bringt.

Dazu verfrachtet er die mit ihren fünf Lebensjahren nun geschlechtsreif gewordenen 200-Kilo-Kolosse per Hubschrauber an Land in ein 40 Meter langes und fünf Meter tiefes Bassin, das für die Tiere die ganze Welt bedeutet. Im Riesenbecken durchleben sie ihre Reise durch die Ozeane, sie schwimmen durch Wasser mit unterschiedlichen Temperaturen und Salzgehalten unter einem den Tageszeiten und wechselnden Sternbildern angepassten Himmel und ahnen nicht, dass es ein Computer ist, der ihnen vorgaukelt, sie bewegten sich mitten im Meer. Tatsächlich laichten die Fische Millionen und Abermillionen Eier. "Wir sind jetzt im dritten Jahr dabei", so Stehr. "Es ist nur noch eine Frage der Zeit, dass der Kreis geschlossen wird und unserer Nachwuchs seinerseits wieder Eier legt."

Er ist dabei so optimistisch wie es ein geborener Selfmademan nur sein kann. "Ich halte es da mit meinem General Patton", sagt er. "Das Wort "cannot" ist aus meinem Vokabular ausradiert."

Viele Preise hat er im Laufe seines Lebens erhalten, darunter einen, die den einst Staatenlosen besonders erfreut, die "Order of Australia"-Medaille, die ihn als "Australien Offizier" auszeichnet. Im April nun nahm er die Ehrendoktorwürde der Australischen University of the Sunshine Coast entgegen. "Ich habe ja nicht viel an Ausbildung absolviert", meint er. "Aber man sieht wohl, dass solche Dinge sind nicht wichtig sind, wenn man an sich selbst glauben kann."

Heimattreffen - deutschsprachige Schulen in Polen

"Wir tragen keinen Groll in uns!"

Wie ein Wunder: Nach dem Krieg gab es deutschsprachige Schulen in Polen

Todenmann. (cok) Die 70 Männer und Frauen aus ganz Deutschland, die sich regelmäßig im Todenmanner "Gasthaus zur Linde" zum "Heimattreffen" einfinden, sie lebten als Kinder alle in derselben Gegend auf den kleinen Dörfern rund um Rintelns polnischer Partnerstadt Slawno in Westpommern. Was so ungewöhnlich ist: Sie blieben zunächst auch dann noch in ihrer Heimat, als Millionen Deutsche am Ende des Zweiten Weltkrieges in den Westen flohen oder vertrieben wurden. Einer von den damals Zurückgebliebenen ist der Rintelner Bäckermeister Horst Lohse (69).

Er kam erst im Jahr 1956 als 15jähriger im Zuge der Familienzusammenführung nach Rinteln, so wie auch die anderen Teilnehmer des Heimattreffens ab Mitte der 1950er Jahre nach und nach entweder in die DDR oder die BRD aussiedelten. Zu ihrer gemeinsamen Geschichte als Außenseiter unter den Polen gehört auch ihre Schülervergangenheit an einer deutschsprachigen Schule in Wusterwitz (Ostrowiec), die von einem jungen Deutschen, dem späteren Doktor und Professor Werner Zarrach geleitet wurde. Der war diesmal zum Treffen eingeladen, ein höchst wacher alter Herr aus Berlin, der keinen Namen seiner ehemaligen Schüler vergessen hatte.

Was sich im ersten Moment so normal anhört, ist genauer betrachtet eine große Besonderheit: Bis auf wenige Ausnahmen durfte in den ehemals deutschen, nun polnischen Gebieten offiziell kein Deutsch gesprochen werden. Die Russen und dann die Polen taten alles dafür, damit sich die neuen Verhältnisse so schnell wie möglich etablieren sollten. Tatsächlich gingen Horst Lohse und seine Kameraden in den ersten fünf Jahren nach dem Krieg überhaupt nicht zur Schule. Dass sie dann doch eine eigene Schule bekamen, wo zwar russisch und polnisch unterrichtet wurde, die Unterrichtssprache aber deutsch war, es klingt fast nach einem Wunder.

"Wir bildeten nach dem Krieg eine deutsche Enklave" erzählt Lohse. "Natürlich hatten wir alle uns auf die Flucht gemacht, als die Russen sich näherten, die Leute aus meinem Dorf Kusserow und aus den anderen Dörfern - Quatzow, Söllnitz, Wiesenthal. Doch kamen wir nicht sehr weit, weil wir von der russischen Armee eingeschlossen wurden. Unsere Trecks kehrten wieder um, die ganze Bevölkerung war wieder da und konnte oft auch in ihre Häuser zurück. In unseren Dörfern sprachen 95 Prozent der Bewohner deutsch."

Als zunächst die Russen und dann Anfang 1950 die Polen die Verwaltung übernahmen, hatten sie hier durchaus ein Interesse daran, die Deutschen vor Ort zu behalten, waren unter ihnen doch Facharbeiter und fähige Handwerker, die zur Arbeit verpflichtet wurden, weil deren Aufgaben nicht ohne weiteres von den neu angesiedelten Polen übernommen werden konnten. Da aber schließlich abzusehen war, dass die Deutschen irgendwann doch in den Westen ziehen dürften, gestand man ihnen deutschsprachige Schulen zu. Werner Zarrach wurde als Bezirksschuldirektor mit der Gründung und Verwaltung dieser Schulen beauftragt, zu denen dann auch eine technische Oberschule gehörte, die Horst Lohse besuchte.

Ähnliche Schule gab es auch im Bezirk Danzig, im Bezirk Stettin und vor allem in den schlesischen Industriegebieten. Sie alle löste man spätestens Ende der 1950er Jahre auf. Horst Lohses alter Lehrer Dr. Zarrach wurde Lehrer in Ost-Berlin und dann Professor für Philologie. Die Herzlichkeit, mit der man ihn beim Heimattreffen aufnahm, zeigte, wie sehr er für ein Zusammengehörigkeitsgefühl seine Schüler hatte sorgen können.

Nicht überall verlief das Leben der Deutschen, die, wenn sie nicht die polnische Staatsbürgerschaft erhielten, einfach staatenlos waren, so relativ harmonisch wie auf den Dörfern bei Slawno. "Im Grunde verstanden wir uns mit den meisten Polen recht gut", so Horst Lohse. "Noch heute haben viele von uns polnische Freunde und ich zum Beispiel war inzwischen schon 20 Mal wieder in Kusserow zu Besuch."

Trotzdem konnte es damals keine Frage sein, dass es auf die Dauer nicht auszuhalten war, als Fremde in der eigenen Heimat zu leben. Horst Lohses Familie und fast alle anderen Deutschen auch stellten Ausreiseanträge und verteilten sich dabei auf ganz Deutschland. Im Jahr 1994 - "O - eigentlich viel zu spät" - organisierte Lohse, der auch im Verein für die Städtepartnerschaft mit Slawno engagiert ist, das erste Heimattreffen mit seinen Jugendfreunden und Mitschülern. Alle zwei Jahre kommen sie für drei Tage in Rinteln zusammen und erzählen, erzählen, erzählen. "Wir tragen keinen Groll in uns", sagt Lohse. "Wir sind einfach nur froh, dass wir das Gefühl für unsere Heimat nicht verloren haben."

Nicole Richards - Schwester, rubbel etwas fester

"Beate Uhse? Liebeszimmer für die alten Eltern? Das fehlte noch!"

Geronto-Psychologin spricht über Tabuthema: Sexualität in Pflegebeziehungen

Von Cornelia Kurth

Nicole Richards ist Diplom-Gerontopsychologin. Ihr Fachgebiet ist die Psyche geistig verwirrter alter Menschen, ihre Vorträge und Seminare gelten dem angemessenen Umgang mit Alzheimer- und Demenz-Patienten in Pflegeeinrichtungen. Wenn sie aber vor ihrem Publikum, den überwiegend weiblichen Pflegekräften in diesen Einrichtungen, erscheint, dann könnte man sie glatt für eine Kabarettistin halten. Ohne Scheu gab sie einer Fachtagung im Kreishaus Stadthagen den provokanten Titel: "Schwester, rubbel etwas fester!" und brachte damit das Tabu-Thema "Sexualität in Pflegebeziehungen" auf den Punkt. Wie geht man mit geistig verwirrten Senioren um, die auf oft drastische Weise Sex und Liebe einfordern?

"Die meisten sagen sich doch: Alte Menschen mit Demenz, ist es bei denen mit Sex nicht mal vorbei?", so begann sie ihren Vortrag. "Doch wir wissen alle aus unserem Pflegealltag: Nein, das ist es nicht!" Allerdings gäbe es in kaum einer der über 10.000 Pflegeeinrichtungen Deutschlands ein Sexualitätskonzept und entsprechenden Leitlinien. "Zum Geschäftsführer eines Seniorenheims sagt niemand: 'Rubbel mal ein bisschen fester'. Die Pflegekräfte stehen mit dem Problem alleine da und wissen oft überhaupt nicht, wie sie handeln sollen und dürfen." Beim Waschen an gewissen Körperteilen wirklich "etwas fester rubbeln"? Den alten Leuten einen Porno besorgen oder sie zu Beate Uhse begleiten? Liebeszimmer einrichten und den Angehörigen irgendwie verklickern, dass der Vater mit einer neuen Frau sehr glücklich ist, während vor der Tür die angetraute Ehefrau steht und es nicht fassen kann?

"Sexualität gehört inzwischen auch im Alter eigentlich zur Normalität", meinte sie und zeigte dafür nicht, Statistiken und anrührende Bilder von verliebten Alten, sondern auch ein eher drastisches Szenenfoto aus Sönke Wortmanns Film "Wolke 9". "Na und?", sagte sie. "Hat nicht jeder das Recht, nach Liebe und Sex zu streben?" Die Sache sei aber, dass die demenzkranken Alten die Kontrolle über ihren Verstand verloren hätten. Wo sie sich wenige Jahre zuvor noch ganz normal benommen hätten, übernähmen aufgrund der Krankheit ungesteuerte Gefühle und Affekte die Regie.

So könne es eben vorkommen, dass eine ehemalige Lehrerin in der Zimmerecke steht und laut schreiend nach Sex verlangt, dass ein netter Alter wo auch immer er eine Frau sieht, die Hosen runterlässt oder ein anderer im Flur lauert, um vorübergehenden Pflegerinnen an den Busen zu grabschen. Aus ihrer eigenen Erfahrung als Leiterin eines Seniorenheims für Demenzkranke schilderte sie den Fall eines Alzheimerpatienten, der über Tage hinweg auch in Gegenwart der Pfleger damit beschäftigt war zu masturbieren. "Sein "'Willi' war schon ganz rot...". Schließlich besorgten sie ihm eine "Vorlage", die sie an die Zimmerwand projizierten. Dann endlich gelang das Gewünschte.

Ja - es waren durchaus krasse Situationen, die Nicole Richards ansprach, ohne dabei lange nach umschreibenden Worten zu suchen. "Ich tue das, weil sonst kaum jemand darüber redet", sagte sie und erzählte gleich, wie sie sich mit großer Einkaufstasche in einem Sexshop umsah, um allerlei Hilfsmittel einzukaufen, die auch für demente Patienten in Frage kämen. "Besser, man kann Dildos und Vibrator anbieten, als dass gänzlich ungeeignete Gegenstände für die Selbstbefriedigung benutzt würden und die Leute dann im Krankenhaus landen."

Das eigentliche Problem bestünde darin, dass die Betreiber von Pflegeeinrichtungen solche Vorgehensweise meistens nicht dulden würden. "Die haben Angst vor Sexthemen und davor, dass Angehörige sagen: "Da gebe ich meinen Vater doch nicht hin? Dildos? Beate Uhse? Liebeszimmer? Das fehlte noch!" Und überhaupt die Angehörigen. Für die sei das Thema ebenfalls tabu. "Wer denkt schon gerne genauer darüber nach, dass auch die alten Eltern sexuelle Wesen sind?"

Erstaunlicherweise handelte ihr langes Referat nur auf den ersten Blick von "Sexualität in Pflegebeziehungen". Dahinter steckte die allgemeine Frage, wie man Alzheimerpatienten und andere demente Senioren überhaupt irgendwie so ansprechen kann, dass man sie auch ohne einen argumentierenden Dialog erreicht. Nicht nur in Sachen Sexualität haben die Kranken ja ihre Anbindung an den Alltag und eine vernünftige Kommunikation verloren. Auch in allen anderen Alltagsorientierungen fehlt ihnen der Kompass, der ihr Leben in geregelte Bahnen leitet.

Auf bewegende Weise und mit viel schauspielerischem Talent spielte Nicole Richards tragikomische Szenen vor: Ein altes Weiblein, das unbedingt nach Hause will, obwohl sie doch gar keines mehr hat; eine andere Alte, die sich laut fluchend darüber beschwert, dass man ihr Zimmer verwüstete; einen Mann, der störrisch was zu essen verlangt, obwohl er doch gerade gegessen hat. Man sei dann geneigt zu sagen: Erinnern Sie sich denn nicht? Denken Sie doch mal nach! "Doch genau das können die Dementen nicht mehr!"

Ihre Methode zur Deeskalation solcher typischen Situationen ist ein längst ausgefeiltes Konzept mit dem Namen: "Integrative Validation". Validation bedeutet hier, die Gefühlsäußerungen eines verwirrten Alten grundsätzlich wertzuschätzen und sie auch dann ernst zu nehmen, wenn sie sich auf eine längst vergangene Realität oder auf Einbildungen beziehen. Das Stichwort "integrativ" bezieht sich auf einen Pflegeansatz, der sich bemüht, den Patienten wieder das Gefühl zu geben, bei sich selbst zu sein. "Wir korrigieren und bewerten nicht die Dinge, die die Verwirrten sagen. Das können sie nicht mehr verstehen. Wir geben ihnen eine Rückmeldung über das Gefühl, das sie bewegt und das unzweifelhaft real ist."

Diese positive Rückmeldung brächte die Alzheimerpatienten in vielen Fällen zur Beruhigung. "Wir dürfen keine Warum-Fragen stellen. Uns nicht auf das konkrete Gestern oder Morgen beziehen. Die Leute auch nicht vor abstrakte Alternativen stellen. Das sind keine Orientierungspunkte mehr im Meer der Verwirrtheit." Stattdessen solle man sich nach einer ersten Bestätigung - "Sie sind ein Familienmensch"; "Sie haben es gerne ordentlich" oder "gut zu essen bedeutet Ihnen viel" - auf Grundantriebe beziehen und den Menschen so wieder verankern: "Ein gutes Miteinander tut wohl" oder "Ordnung muss ein!" oder "wer arbeitet, soll auch essen." Oft helfe dieser Bezug auf Allgemeinplätze oder auch auf Gedichte und Lieder, die den Verwirrten noch im Kopf sind.

Dann, erst dann, könne es darum gehen, ein Verhalten zu ändern. Auf der Basis eines gemeinsames Verständnisses sei es möglich, den dementen Menschen zu erreichen. In diesem Sinne antwortete Nicole Richards auf die Frage einer Pflegerin im Publikum, die erzählte, dass es in ihrer Einrichtung eines Mann im frühen Alzheimerstadium gäbe, der rund um die Uhr Pornos ansähe und sich strikt weigere, das zu unterbrechen, wenn der Pflegedienst seine Aufgaben zu erfüllen habe. Während einige Pflegerinnen sich entschlossen hätten, die Pornos einfach zu ignorieren, sei die Geschäftsleitung zu dem Schluss gekommen, es handle sich um pure Provokation und der Mann solle erst dann wieder gepflegt werden, wenn er sich füge. Sie wüssten eigentlich gar nicht, was sie tun sollten.

Klar sei, so Richards, dass laufende Pornos während der Pflegehandlungen unzumutbar seien. Dem Mann die Pflege zu verweigern, als wäre er ein störrischer Jugendlicher, der eigentlich begreife, was er da verlange, sei aber ebenso daneben. Sie schlug vor, ganz nach ihrer Methode der "integrativen Validation", dem Patienten zunächst zu bestätigen: "Sie sind ein sinnlicher Mann. Sexualität bedeutet Ihnen viel", um dann darauf hinzuweisen, dass alles seine Zeit habe und dass jeder Mensch eben anders sei. Das ergäbe eine Basis, auf der man den Fernseher eine Weile ausstellen könne. Die Pflegerin versprach, den Vorschlag in ihre Einrichtung zu tragen und ihr dann eine Rückmeldung zu geben.

Was das Ausgangthema betraf, sexuelle Wünsche von geistig desorientierten alten Menschen, so relativierten sich im Laufe des Vortrages viele der im ersten Moment so kompliziert erscheinenden Situationen. Oft lebten Alzheimerpatienten in einer Welt, in der sie in der Blüte ihrer Jahre stünden und sich Dinge zutrauten, zu denen sie in Wirklichkeit gar nicht mehr fähig, ja, die eigentlich gar nicht ihre Wünsche seien, so die Gerontopsychologin. "Der Wunsch nach Sex ist in den allermeisten Fällen einfach der Wunsch nach Beachtung, Liebe, Geborgenheit", sagte sie.

Viel sei schon geholfen, wenn man diese Sehnsüchte einfach bestätige. Die ehemalige Lehrerin, von der sie erzählte und die immer lauthals mit groben Worten nach Sex verlangte, sie habe sich einfach einsam und verlassen gefühlt. Nach entsprechenden Worten habe sie sehr geweint und sich in den Arm nehmen lassen. "Natürlich war es nicht das letzte Mal, dass sie sich so benahm", so Richards. "Aber gut, dann macht man es beim nächsten Mal eben genau so wieder."

Silke Priebe, Leiterin des Fachdienstes Altenpflege im Landkreis und Organisatorin der Tagung, sie bekam mehrmals gesagt, dass es sehr mutig gewesen sei, so ein Angebot zu machen. "Ja, das war es bei diesem Tabuthema wohl auch", bestätigt sie. "Doch jetzt kommt es uns eigentlich ganz selbstverständlich vor." Das dringende Anliegen eines verbindliches Sexualitätskonzeptes in Pflegeeinrichtungen sei damit allerdings nicht aufgehoben. Ebenso wie Nicole Richards fürchtet sie, eine Umsetzung könne sich noch über Jahre hinziehen.

Richards kommt übrigens ursprünglich aus Holland und die Beispiele eines lockeren Umgangs mit den sexuellen Wünschen Demenzkranker stammen auch von dort. Die Schwester, die gebeten wurde, etwas fester zu "rubbeln", sie sagte, so Richards, sie habe es eben einfach getan. "Ob man so einem Wunsch folgt oder nicht, muss jedem persönlich überlassen bleiben. Aber die Pflegekräfte sollten die äußere Sicherheit haben, dass solche und ähnliche Vorgehensweisen zur Linderung der Not nicht von der jeweiligen Leitung sanktioniert werden."

Volkstrauer und Kriegsgräberfürsorge -

Von Cornelia Kurth

"Ziehen Sie erstmal die Uniform aus, dann spende ich auch was für die Kriegsgräber!" Dass Brigadegeneral Reinhard Wolski so harsch angefahren wird, wenn er sich zusammen mit anderen Soldaten der Bückeburger Heeresflieger in den Tagen vor dem Volkstrauertag mit der Spendendose an seine Mitbürger wendet, kommt sehr selten vor. Kein Wunder allerdings, dass es eine junge und keine ältere Frau war, die ihn vor Jahren einmal so ansprach. "Wir befinden uns zwar im Umbruch und können immer mehr auch die junge Generation für den Volkstrauertag interessieren", meint er. "Aber vielen ist nicht wirklich klar, worum es uns eigentlich geht, wenn wir uns für Kriegsgräberfürsorge und das Gedenken an die Opfer von Krieg und Gewalt engagieren."

Tatsächlich mag es ja widersinnig erscheinen, wenn ausgerechnet Soldaten eine so tragende Rolle in der Zeit rund um den Volkstrauertag spielen. Waren es nicht Soldaten, die als Täter auftraten und auftreten? Die töten und Werkzeuge sind in grausamen Kriegsgeschehen? Die sich in der Zeit des Zweiten Weltkrieges dem Willen des "Führers" unterwarfen und bereit waren, buchstäblich über Leichen zu gehen, auch derer von Zivilisten im "Feindesland" und verfolgten Volksgruppen?

Ja, solche Fragen kommen durchaus auf, wenn der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge seine Schulreferenten in die Schulen des Landkreises schickt, um Jugendliche für ihre Sache zu gewinnen, oder wenn Schüler die Heeresfliegerwaffenschule besuchen, um sich über deren Aufgaben zu informieren. "In manchen Köpfen spukt noch der Gedanke, dass der Volkstrauertag auch mit dem Stichwort 'Heldengedenktag' umschrieben werden könnte. Das ist aber grundfalsch", so der Brigadegeneral. "Es ist im Gegenteil ein Tag, der gegen die Idealisierung von Krieg gerichtet ist. Der dem Bewahren des Friedens gewidmet ist. An dem es auch darum geht, den Militärdienst in Deutschland als Friedensdienst hervorzuheben."

Der Volkstrauertag, zum ersten Mal als nationaler Feiertag im Jahr 1922 begangen, hat eine lange Geschichte wechselhafter Interpretationen hinter sich. Ursprünglich gleich nach dem Ersten Weltkrieg vom Volksbund für Kriegsgräberfürsorge als Gedenktag für die gefallenen deutschen Soldaten angeregt, sollte er später auch über alle Parteigrenzen hinweg die Bürger der Weimarer Republik einen in der gemeinsamen Trauer um die verlorenen Väter, Brüder und Söhne.

Dabei bestand schon immer die Gefahr, dass der Gedenktag nicht, wie durchaus intendiert, als Friedensappell aufgefasst, sondern der Heldentod fürs Vaterland als vorbildliche Einstellung für die Zukunft herausgestellt wurde. Während auf der einen Seite der Hamburger Pastor Jähnisch 1926 auf einer zentralen Gedenkfeier an das "Deutschland muss leben und wenn wir sterben müssen" erinnerte, erklärte ein Jahr später die "Vereinigung ehemaliger Kriegsgefangener": "Mögen diese Toten (...) die Saatkörner sein, die der Welt den ersehnten ewigen Frieden geben." Als die Nationalsozialisten den Tag dann offiziell zum "Heldengedenktag" umfunktionierten, stand nicht mehr die Totenehrung im Mittelpunkt, sondern eine Heldenverehrung, die man getrost als Einstimmung auf den nächsten Krieg betrachten konnte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg verlegte man den Volkstrauertag auf die klassische Zeit der Totenbetrauerung in den November, als einen Tag der Versöhnung zwischen den Nationen, der Völkerverständigung und der Friedenssicherung. Der Text, der seitdem gesprochen wird, beginnt nicht mit dem Blick auf die Soldaten, sondern mit dem Satz: "Wir denken heute

an die Opfer von Gewalt und Krieg, Kinder, Frauen und Männer aller Völker" und endet mit den Worten: "Unsere Verantwortung gilt dem Frieden unter den Menschen zu Hause und in der Welt". Das sei ein Wandel, den er voll unterschreiben könne, betont Brigadegeneral Wolski. In genau diesem Sinne würde der Volkstrauertag begangen und so habe er sich - aller Kontroversen von links und rechts zum Trotz - auch durchgesetzt.

Wenn nun am Sonntag überall in den Städten und auf den Dörfern die Gedenkstunden stattfinden, mal in Form eines Gottesdienstes, oft als Kranzniederlegung an den örtlichen Ehrenmälern oder wie an der Paschenburg, wo sich Vertreter aus Politik, Vereinen und Verbänden am Kriegerdenkmal treffen, dann sind regelmäßig auch Schüler beteiligt, die den Gedenktext sprechen, Musik machen oder von Friedensprojekten an ihren Schulen berichten. Solche Projekte drehen sich oft um die Kriegsgräbervorsorge, und genau die sei es, welche junge Leute sich ganz bewusst gegen den Krieg und für die Friedensarbeit entscheiden ließe.

Das sagt Anett Schweizer, eine von vier Schulreferentinnen in Niedersachen, die, vom Volksbund für Kriegsgräberfürsorge beauftragt, vor allem mit Lehrern in Bückeburg und Stadthagen zusammenarbeitet. Besonders engagiert ist da die Stadthäger "Schule am Schloss". Nicht nur ziehen von dort aus junge Leute mit den Sammelbüchsen durch die Stadt ("das ist sehr wichtig, wir finanzieren uns zu 85 Prozent aus Spenden"), sie besuchen auch die Friedhöfe in der Umgebung, um ganz konkret Opfer von Kriegsgewalt ausfindig zu machen.

"Am meisten beeindruckt sind die Jugendlichen, wenn sie begreifen, dass viele der gefallenen Soldaten nicht älter waren, als sie es heute sind", erklärt die Schulreferentin. "Dann wird ihnen klar, dass man nicht pauschal alle Soldaten als Mörder bezeichnen darf, sondern dass auch sie Opfer eines Wahnsinns waren, der nie wieder geschehen soll." Auch wenn sie die meist abseitig gelegenen Ecken mit den Gräbern von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern sähen und betreuten, seien sie erschüttert, erst recht, sobald ihnen klar würde, wie viele Babys dort beerdigt liegen, die sterben mussten, weil sie ihre Mütter von der Zwangsarbeit abhielten.

Die Einbeziehung der Jugendlichen in Volkstrauertag und Kriegsgräberfürsorge sei auch vor dem Hintergrund des besonderen Status' von Kriegsgräbern zu sehen. "'Normale Gräber werden meistens nach 20, spätestens 30 Jahren eingeebnet - Kriegsgräber aber genießen ein 'ständiges Ruherecht'. Sie müssen auch in Zukunft erhalten und gepflegt werden. Wer sollte das tun, wenn nicht die nachfolgenden Generationen?"

Mit dieser in die Zukunft gerichteten Frage steht eine weitere Fragestellung in Zusammenhang. Seit dem Jahr 2006 werden bei den zentralen Gedenkfeiern im deutschen Bundestag auch die über 3000 gefallenen Soldaten erwähnt, die nach dem zweiten Weltkrieg bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr zu Tode kamen. Auch bei der eher traditionell ausgerichteten Gedenkstunde an der Paschenburg will Werner Vehling, Leiter des Kreisverbandes Schaumburg des Volksbundes, auf die in Afghanistan getöteten Bundeswehrsoldaten zu sprechen kommen.

"Das ist gut so", meint Brigadegeneral Wolski. "Unsere Soldaten arbeiten nicht für ein Unrechtssystem, sie haben ihren Eid auf das Deutsche Volk und unsere Demokratie geleistet. Wenn sie in Afghanistan eingesetzt werden, dann tun sie das gewissermaßen im Auftrag von uns allen." Es sei eben ein Unterschied, ob jemand auf dem Rückweg von der Disko bei einem Autounfall ums Leben komme oder bei einem der Friedenseinsätze, für die jedes Jahr neu ein demokratisch erwirktes Mandat ausgesprochen werden müsse.

Schulbeauftragte Anett Schweizer lässt sich auf eine Grundsatzdiskussion gar nicht erst ein. "Für uns steht das Kriegsgrab und seine symbolische Bedeutung im Mittelpunkt. Da geht es sowieso nicht nur um deutsche Gräber. Überall dort, wo Soldatenfriedhöfe bestehen, sind die Menschen aus den beteiligten Nationen beerdigt. Die Kriegsgräber gemahnen daran, dass wir alle uns für den Frieden engagieren sollen." Für eine stärkere Beteiligung junger Menschen am Volkstrauertag sei es sicherlich von Bedeutung, die traditionellen Gedenkfeiern durch neue Formen der Trauer und des Gedenkens zu modernisieren. "Kriege, Gewaltherrschaft, Friedensbemühungen - die Schüler erkennen in unseren Geschichtsprojekten, wie sehr uns alle das angeht in einer globalisierten Welt. Da geht es dann gar nicht mehr darum, ob man eigene Angehörige verloren hat oder nicht."

Vikarin - Was für ein Beruf!

Von Cornelia Kurth

Wenn Annabelle Kattner (32) anderen Leuten erzählt, dass sie Vikarin ist, kommen oft erstaunte Nachfragen. Vikarin? Was soll das denn sein? "Mich wundert diese Unwissenheit nicht", meint sie. "Als ich mich in der Grundschule Rehren vorstellte, wussten viele Schüler noch nicht mal, was eigentlich ein Pastor ist." So erklärte sie den Kindern, dass Pastoren die Gottesdienste in den Kirchen leiten, Hochzeiten und Beerdigungen durchführen und dass man sie ansprechen kann, wenn man im Leben mal nicht weiter weiß. "Ich will Pastorin werden", sagte sie zu den Schülern. "Dafür muss man eine Ausbildung machen, das 'Vikariat'. Also bin ich Vikarin, so, wie Lehrer zu Beginn Referendare sind."

Dass der Begriff "Vikar" relativ unbekannt ist (er leitet sich aus dem Lateinischen ab und bedeutet soviel wie "Statthalter" oder "Stellvertreter"), es hängt auch damit zusammen, dass es gar nicht so viele angehende Pastoren mehr gibt, seit die Evangelische Kirche Stellen einspart und Gemeinden zusammenlegt. Zur Zeit absolvieren in der gesamten Niedersächsischen Landeskirche etwa 70 Vikare und Vikarinnen ihre Ausbildung. Die dauert über zwei Jahre, wobei alle halbe Jahr ein neuer Ausbildungszyklus beginnt.

Annabelle Kattner gehört zur jüngsten Gruppe von insgesamt 18 Berufsanfängern und ist die einzige, die einer Gemeinde im Kirchenkreis Schaumburg zugeteilt wurde, der Gemeinde von Rolfshagen/ Kathrinhagen. "Ja, kein Wunder, dass viele staunten, als ich plötzlich auftauchte", meint sie. "Man vergisst ja glatt, dass fertige Pastoren nicht einfach vom Himmel fallen." Bevor die Arbeit in der Gemeinde beginnt und sie ihrer Anleiterin Pastorin Heike Köhler auf Schritt und Tritt folgen wird, um das Berufsfeld von Grund auf kennenzulernen, gibt sie bis zum Februar Religionsunterricht in der Grundschule Rehren.

Ein Schulpraktikum war schon immer üblich in der Ausbildung zum Pastoren. Neu ist, dass es jetzt als Block der Gemeindearbeit vorangestellt wird. "Mir gefällt das", sagt Annabelle Kattner. "Da werde ich gleich mit den grundlegenden religionspädagogischen Dingen konfrontiert." Was sie sofort feststellen konnte: Die Zweit- und Drittklässler, mit denen sie zu tun hat, sind sehr offen, neugierig und aufgeschlossen gegenüber den Geschichten aus der Bibel, die nur die wenigstens noch innerhalb der Familie kennenlernen.

Gerade haben sie zusammen die Weihnachtsgeschichte gelesen und dabei viel über die Engel gesprochen: Ob sie sie wohl in Wirklichkeit gibt, ob man ihnen im Alltag begegnet, ob auch ein Mensch eine Art Engel sein kann und welche Rolle Engel in der Bibel spielen. "Ich selbst hatte ja eine Kinderbibel, die ich fast auswendig kannte. Mich haben Glaubensfragen schon sehr früh interessiert", so Annabelle Kattner. Ihre Jugend in Langenhagen sei stark geprägt gewesen von der Beziehung zur Kirche vor Ort. "Das ganze Programm: Kindergottesdienst, Bibelkreis, Kirchenchor, Zeltlager und immer wieder diese langen Gespräche über Gott und den Glauben."

Keine Frage, dass sie Theologie studieren würde. "Für mich war es lange eher ein geisteswissenschaftliches Studium, gar nicht so sehr der Weg zum Pfarramt. Ich wollte so viel wie möglich lesen und lernen. Ob ich nun Pastorin werden würde oder nicht, darüber habe ich lange gar nicht nachgedacht." Zu Beginn ist das Studium der Theologie eine ziemlich harte Probe darauf, ob man es wirklich will. Wer nicht in der Schule das große Latinum machte, muss es an der Uni nachholen und dazu auch noch, wie alle, griechisch und hebräisch lernen. "Der Anspruch ist hoch", meint Annabelle Kattner. "Schließlich geht es ja darum, die Bibeltexte auch im Original lesen zu können."

Neben der wissenschaftlichen Ausrichtung des Studiums, spielt allerdings früh auch die berufspraktische Ausbildung eine Rolle. In Leipzig, wo sie ihr Studium begann, waren besonders viele Pastoren unter den Dozenten, es gab Predigttheorie-Seminare, in denen die Studenten früh selbst Predigten ausarbeiteten und im Team Gottesdienste vorbereiteten. So dauerte es gar nicht so lange, bis Annabelle Kattner sich darauf einstellte, tatsächlich einmal in den Pfarrdienst zu gehen. "Ich merkte auch, dass ich in ungeplanten Seelsorge-Gesprächen anderen durchaus helfen konnte", sagt sie. Im Vikariat nun will sie erproben, ob diese Entscheidung auch wirklich Bestand haben wird.

Diese zwei Jahre der Ausbildung sind nicht nur von den Einblicken vor Ort geprägt, sondern entscheidend auch von der Beziehung zu den anderen Vikaren, die jetzt alle ähnliche Erfahrungen machen. In regelmäßigen Abständen kommen sie zu Ausbildungseinheiten im Predigerseminar Loccum zusammen, wo sie auf engagierte Dozenten treffen, aber auch unendlich viel miteinander reden, oft bis tief in die Nacht, bevor sie alle in den Räumen des Predigerseminars übernachten. "Diese engen Beziehungen sind sehr wichtig für uns", so Kattner. "Kaum ein anderes Studium ist ja so sehr mit dem eigenen Inneren verbunden."

Immer wieder geht es in diesen Gesprächen um das jeweils eigene Verhältnis zu Gott, um die Art, wie man an ihn glauben kann oder soll, um den Umgang mit persönlichen Zweifeln, und auch darum, wie man mit Menschen umgeht, die geistlichen Beistand suchen. Wo liegt die Grenze zwischen Theologie und Psychologie? Wo geht es um menschliche Tröstung, wo um Stärkung des Glaubens und soll man eigentlich missionieren oder die Menschen so nehmen, wie sie sind? "Wir stellen es uns gar nicht so einfach vor, Hochzeiten oder Taufen zu feiern und dabei zu wissen, dass die Beteiligten uns vielleicht eher als Dienstleister zur Organisation eines Festes brauchen und nicht als Geistliche."

Noch aber sind das eher theoretische Fragen. Erst im Februar wird Annabelle Kattner als Vikarin offiziell eingeführt, erst danach wird sie taufen, verheiraten oder - was statistisch gesehen als Erstes zu erwarten ist - eine Beerdigung durchführen. "Die Beerdigung, das ist das Einzige, wovor ich etwas Angst habe, wir alle haben das, wir sprechen viel darüber. Aber ansonsten freue ich mich sehr auf die Gottesdienste, auf das Predigen, ja, auch auf die Liturgie." Im Gegensatz zu manchem anderen Vikar, der sich davor fürchtet, seine Stimme würde nicht besonders schön klingen oder vielleicht auch einfach umkippen, weiß sie aus langer Chor-Erfahrung, dass sie eine wohlklingende Stimme hat. "Ja - das muss meine geringste Sorge sein."

Wenn es etwas gibt, was sie noch zweifeln lässt, ob sie nach dem Vikariat tatsächlich eine Pfarrstelle antreten wird, dann ist es der Umstand, dass die Arbeit als Pastor im Zuge der allgemeinen Einsparungsforderungen zugleich diejenige eines Gemeindemanagers ist, der viel Bürokratie auch rund um die Finanzen zu erledigen hat, möglicherweise zu Lasten des nahen Umgangs mit den Menschen in der Gemeinde.

"Manche von uns sind auch noch nicht im Klaren darüber, ob sie mit der besonderen Rolle, die sie als Pastor in der Öffentlichkeit übernehmen, klarkommen werden. Man hat eine Vorbildfunktion, aber man will ja zugleich auch 'ich' bleiben." Für all diese Unsicherheiten wählen sich die meisten Vikare einen eigenen Seelsorger, eine geistliche Begleitung während der Ausbildung, meistens einen Pastoren oder Religionspädagogen, die sich extra dafür zur Verfügung stellen.

Doch Unsicherheiten hin oder her - alle haben doch schon einen großen Schritt in Richtung Pastorenberuf getan, nämlich sich einen eigenen Talar schneidern lassen. Dieses schwarze Gewand mit dem dazugehörigen "Beffchen", dem weißen Kragen, kauft man nicht mal eben schnell von der Stange, nein. Dazu reiste extra ein Talarschneider aus Hamburg nach Loccum an, um bei jedem einzelnen Vikar Maß zu nehmen und sich dann per Handarbeit ans Nähen zu machen. Jede der vielen Falten wird durch den Könner zurecht genäht, jedes Knopfloch eigenhändig gekettelt. Ein guter Talar kostet um die 600 Euro, aber er hält dann auch mindestens 20 Jahre, ein halbes Berufsleben lang.

Bisher hat Annabelle Kattner ihren persönlichen Talar nur zur Probe angelegt, ein ziemlich mächtiges Kleidungsstück, ist sie doch über ein Meter 80 groß. Zur Wahl standen zwei Grundmodelle: Der "Preußische Talar" mit seinem großzügigen Faltenwurf und der "Hannover'sche Talar", der schlichter gehalten ist und eine etwas strengere Form aufweist. Sie entschied sich für den "Hannover'schen Talar". Wenn sie Ende Februar ihre erste Predigt hält, darf sie ihn endlich einweihen.

Dr. Christian Stäblein, Studiendirektor am Predigerseminar in Loccum, betont, dass sich die Landeskirche über jeden Menschen freut, der sich für ein Studium der Theologie mit dem Ziel Pfarramt entscheidet. Seit der 1990er Jahre habe es einen Einbruch bei den Studentenzahlen gegeben, weil zu viele fürchteten, sie würden wegen des Sparzwangs der Kirche keine Stelle bekommen. "Zwar besteht jetzt kein aktueller Mangel an Pastorennachwuchs", sagt er. "Aber Studienanfänger können doch davon ausgehen, dass sie in unserer Kirche gebraucht werden."

Henrik Ibsen: "Hedda Gabler"

Die tödliche Langeweile einer ausgehöhlten Seele

Henrik Ibsens "Hedda Gabler" in einer beeindruckten Inszenierung des "Theaters für Niedersachen"

Rinteln. (cok) Sie sind beunruhigend, diese Theaterstücke, bei denen man als Zuschauer am Ende froh ist, wenn die Hauptperson ihr Leben lässt. Kann es wirklich sein, dass ein Mensch zu nichts anderem gut ist, als rundherum Zerstörung anzurichten? Henrik Ibsens "Hedda Gabler", vom "Theater für Niedersachen" im Brückentorsaal auf Einladung des Kulturrings eindrucksvoll inszeniert, ist das Portrait einer ausgehöhlten Seele, die sich vom Unglück in ihrer Umgebung ernährt.

Ibsens Stück entstand bereits im Jahr 1890, ein sprachlich eigenartig modern wirkendes Psychodrama, in dem - nicht viel anders als in manchen Stücken amerikanischer Autoren aus den 1950er Jahren - eine kleine Gruppe voneinander abhängiger Menschen in einem einzigen Raum aufeinander losgelassen wird, um sich gegenseitig fertigzumachen. Bei Ibsen ist die treibende Zerstörungskraft in der starren Enge einer Gesellschaft begründet, die keinen Platz für Außenseiter hat.

Hedda Gabler, die wunderschöne Frau eines angehenden Professors, langweilt sich in ihrem berufslosen Eheleben. So, wie er sie aus dem abseitigen Leben einer Tänzerin ins bürgerliche Leben heraushob, ist sie nun seine Trophäe, mit der einzigen Aufgabe, diese Rolle so gut wie möglich auszufüllen. Sie träumte von Luxus und Anerkennung, doch als die Anstellung ihres Mannes plötzlich nicht mehr sicher ist, weil ihr früherer Liebhaber, ein Schriftsteller-Bohemien, unerwartet Erfolg hat mit seinem neuen Buch, bricht ihre Welt in sich zusammen.

Umgeben von Menschen, die ebenfalls alle nur eine Rolle zu spielen scheinen, zerfrisst sie nun der Neid auf den Exliebhaber und seine hingebungsvolle neue Freundin, ungeachtet der Tatsache, dass diese in Probleme einer ungesicherten Existenz verstrickt sind, denen Hedda Gabler ja durch ihre Ehe entfloh. Als sei sie eine dieser Figuren aus aktuellen Fernseh-Soaps, spinnt sie sinnlos ein Netz von Intrigen, zu nichts anderem da, als ein bisschen Leben in die Langeweile zu bringen. Selbst auf der Suche nach einem Fünkchen echten Gefühls, kann sie nicht ertragen, dass andere Menschen ihre Dinge mit Leidenschaft verfolgen.

Regisseurin Bettina Rehm setzt alles daran, diese tödliche Langeweile auch in der Wahl des Bühnenbildes und der Ausstattung ihrer ausgezeichneten Schauspieler zu inszenieren, ein gewagtes, doch gelungenes Spiel. Wie ein reizender Schmetterling schwirrt die rothaarige Hedda Gabler (hervorragend: Michaela Allendorf) über die Bühne, sie singt und leuchtet und lässt alle anderen als genau die reizlos grauen Gestalten erscheinen, als die sie sie auch wahrnimmt. Die prächtige Villa ist nur ein leerer Raum voller Betonstelen, der Ausblick geht auf einen in unerreichbare Fernen verweisenden Großstadthafen.

Die Zuschauer finden dabei niemanden, mit dem sie sich identifizieren könnten. Weder Heddas nur seinen Studien hingegebener Mann, noch die Anschluss suchende alte Tante, weder der überall seinen Vorteil entdeckenden Amtsrichter, noch die unscheinbare Freundin des jugendlich verantwortungslosen Schriftstellers eigenen sich dazu. Und erst recht nicht Hedda Gabler selbst, die schließlich das unersetzliche Manuskript des Schriftstellers vernichtet. Sie habe es aus Liebe zu ihrem Mann getan, um einen Konkurrenten auszuschalten. In Wirklichkeit tat sie es nur, um zu sehen, was dann passiert.

Was bleibt, ist das irritierende Gefühl, dieser Person den Tod zu wünschen, noch bevor sie sich selbst, da ihre Intrigen an der inneren Leere nichts änderten, erschießt. War sie einfach ein widerliches Ekel? Ist sie das Opfer einer Umgebung, in der sie sich nicht entfalten konnte? Steckt in allen Menschen die Bereitschaft, aus Neid auf ein lebendigeres Leben zerstörerisch zu wirken? Mit Absicht gibt die herausfordernde Inszenierung keine Antwort, Anlass für viele angeregte Gespräche in der Pause und nachdem der Vorhang fiel.

Nevfel Cumart "Tarzandeutsch"

Tarzandeutsch: "Du mich verstehen?"

Ein Dichter erzählt vom Leben zwischen den zwei Welten Deutschland und Türkei

Rinteln. (cok) Nevfel Cumart ist Dichter und Islamwissenschaftler. Als er am Dienstagabend in der Bibliothek des Ernestinums eine Runde aus älteren Schülern, Lehrern und einigen Eltern um sich versammelte, da trat er allerdings eher wie ein Entertainer auf. Sein Thema: Das Leben zwischen zwei Welten. 1964 als Kind türkischer Gastarbeiter in Deutschland geboren, verwandelte er plaudernd seine Autobiographie in ein kleines Lehrstück über Integration.

Wie jedes Mal, wenn er im Ernestinum zu Gast ist, erstaunt der Dichter - 15 Gedichtbände sind im Laufe der Jahre von ihm erschienen - die Schüler durch seinen lockeren Auftritt. Die wenigsten stellen sich einen Poeten und Wissenschaftler so vor, dass er sich hemdsärmelig auf das Pult setzt, jeden angrinst, Scherze macht und allerlei Anekdoten erzählt, bevor er tatsächlich mal eines seiner Gedichte vorliest. Die meisten davon waren Liebesgedichte, mal in sehr nüchternen Worten, mal schwelgerisch und pathetisch. Sie handelten von seiner ersten unglücklichen Liebe, die nicht untypisch war für einen Gastarbeiterjungen, der sich in ein deutsches Mädchen verliebt.

Seine Familie war geschockt, hatten die Eltern doch nur mit großen Bedenken die Türkei verlassen, bildungsferne, fleißige Leute, die alles dafür tun wollten, dass ihr Sohn ein 150prozentiger Türke wird, der im fremden Land nicht die eigentliche Heimat vergisst. Was für ein Wagnis für den jungen Nevfel Cumart, in einer Gedichtzeile an seine deutsche Liebste zu schreiben: "Vom Minarett erklingt dein Name!"

Die Eltern der Freundin zeigten sich ebenfalls entsetzt: "Kein Türkenlump in meinem Haus!" hieß es dort. So konnten sich die beiden jahrelang nur heimlich treffen, mit ein Grund dafür, dass Cumart mit 17 Jahren zum sehnsüchtigen Dichter wurde, der außerdem verstehen wollte, was beide Kulturen anscheinend so sehr voneinander trennt. Kein Zufall, dass er später Turkologie, Arabistik und Islamwissenschaften studierte und auch jetzt noch auf seinen Lesereisen durch die Schulen Deutschlands fast immer das Verhältnis von Deutschen und Türken thematisiert.

Die erste Liebe zerbrach, und so unterhaltsam er von dieser Geschichte erzählt, sie hat durchaus ihre deutsch-türkische Tragik, die sich auch durch andere Teile seiner Erzählungen hindurchzieht. Wie herablassend reden viele über die Gastarbeiter, die in den 1960er Jahren nach Deutschland kamen, um hier die Wirtschaft anzukurbeln. Sie stammten aus Gegenden in der Türkei, wo das Leben so hart war, dass sich Hunderttausende dem Bewerbungsverfahren aussetzten, keine angenehme Prozedur, bei der unendlich viele abgewiesen wurden.

Deutschkenntnisse brauchte niemand vorzuweisen - auch Nevfels Eltern verstanden kein einziges Wort - dafür aber musste man kerngesund sein für die bevorstehende harte Arbeit. "Mich hätten sie niemals genommen", so der Dichter. "Ich habe manchmal Gelenkschmerzen und außerdem ein paar Zahnplomben." Eines seiner Gesichte beschreibt mit fast biblisch klingenden Worten der Auszug der Türken ins gelobte, fremde Land, in verschlossenen Zügen, "mit Koffern voller Heimweh" im Gepäck.

Erst in den 1990er Jahren begriffen Deutsche und Türken langsam, dass es keine Rückkehr geben würde. Bis dahin war in den Familien Türkei und draußen auf der Straße Deutschland. Das Integrationsprogramm, wie es einigermaßen flächendeckend erst seit etwa fünf Jahren umgesetzt wird, es kam, so Cumart, 45 Jahre zu spät. Noch heute würde er manches Mal aufgrund seines Aussehens im lautstarken "Tarzandeutsch" angesprochen, von Handwerkern etwa: "Du mich verstehen? Ich müssen an Schalter".

Natürlich musste man bei solchen Äußerungen herzlich lachen. Manchmal wurde es aber doch ernst. Zum Beispiel, als er über die Begriffe von "Toleranz" und Akzeptanz" sprach. "Nur geduldet zu werden, das ist eine tiefe Beleidigung, meint ihr nicht auch?"

HIV - Botschafter der Hoffnung Burkhard Hildebrandt

Von Cornelia Kurth

Ein großer blonder Mann mit so kräftigen Händen, als könnte er Bäume ausreißen, das ist Burkhard Hildebrandt (45) aus Aerzen, ein ehemaliger Tischlermeister, der das Holzhandwerk über alles liebte und viele Jahre lang seinen eigenen Betrieb führte. Dass er irgendwie krank sein könnte, ist ihm überhaupt nicht anzusehen. Und doch ist er vor gerade mal zwei Jahren dem Tod nur knapp von der Schippe gesprungen. Er lag im Koma und brauchte Monate, um wieder zu Kräften zu kommen, das alles als Folge seiner Aids-Erkrankung, die er seit 15 Jahren mit sich herumträgt. "Ich will ein Botschafter der Hoffnung sein", sagt er jetzt. "Ich will, dass andere HIV-Infizierte es etwas leichter haben können."

"Du bist verrückt! Das kannst Du nicht tun!" so reagierten seine Freunde und Verwandten, als er in diesem Sommer zu einer wirklich ungewöhnlichen Reise nach Nordafrika aufbrach, in die Sahara, ganz allein. Dafür setzte er sich nicht in seinen Landrover, sondern in ein winziges gelbes Autolein, einen Fiat 500, Baujahr 1969, den er sich einst zum Rumbasteln gekauft hatte und der aussieht wie das Gefährt eines Hobbits, erst recht, wenn der Riese Burkhard Hildebrandt daneben steht. "Ich wollte auffallen, ja! Dass man mich wahrnimmt, über mich schreibt. Es gibt nichts Schlimmeres, als sich zu verstecken, wenn man Aids hat."

Genau darin besteht seine Botschaft und seine Aufgabe: Als HIV-Erkrankter nicht einfach unsichtbar zu werden, sondern anderen Mut zu machen. Als er von seiner Infektion erfuhr, war das nicht nur für ihn, sondern auch für seine Familie ein Schock. Zur Lebensgefährlichkeit der Krankheit kam ihr Stigma hinzu, die Gewissheit, von jetzt an ein Gezeichneter zu sein. Was wäre, wenn die Leute im Dorf davon erführen? Damals dachten viele noch, man könne sich durch einen Händedruck anstecken, durch die Benutzung desselben Glases, durch den Atem, der einem entgegenkommt, anstecken an einer Krankheit, die doch andererseits nur Menschen bekamen, die etwas "Böses" getan hatten, Drogen genommen, mit Männern oder mit Prostituierten geschlafen.

"Unser Problem war - und so ist es ja auch noch heute - dass es nirgends ein positives Vorbild für Menschen mit dem HI-Virus gibt", sagt er. "Man findet einfach niemanden, an dem man sich orientieren kann und der aufsteht: Seht her, ich habe Aids und ich bin trotzdem stark."

Wenn jemand Krebs habe, sähe es da anders aus. Prominente erzählen von ihrer Krankheit, überall könne man positive Geschichten lesen über tapferes Leben und Sterben und es sei auch kein großes Problem, mit anderen über alles zu reden. "Unsere Familie aber war innerlich wie gelähmt!"

Diese Reise nach Afrika entstand aus einem tagelangen Wachtraum, den er im Krankenhausbett träumte, nachdem er aus dem Koma erwacht war. Die Ärzte hatten ihm vorhergesagt, dass er wohl keine zwei Jahre mehr zu leben hätte, wenn er sich nicht mit aller Kraft für das Leben entscheide. "Ich sah mich in der Sahara, unter dem hohen Himmel, in der unendlichen, absolut ruhigen Landschaft, ohne Menschen um mich herum. Ich lag ihm Sand und streckte die Arme aus und fühlte: Es geht um mich, nur um mich allein!"

Afrika - das Land der Träume und zugleich das Land, wo er sich die tödliche Infektion geholt hatte. Als 24jähriger Tischler war er nach Namibia gereist, hatte dort Arbeit gefunden, war Vorarbeiter auf verschiedenen Baustellen geworden und hatte beschlossen, auszuwandern. Auch seine damalige Frau (und später Mutter seiner beiden Kinder) ließ sich auf dieses neue Leben ein. "Alle wollen immer wissen, wie ich mich angesteckt habe, ob ich untreu gewesen sei, ungeschützten Geschlechtsverkehr hatte", sagt er. "Ich glaube, es geschah durch eine Verletzung auf der Baustelle. Aber im Grunde ist es doch egal."

Erst, als er nach fast fünf Jahren doch nach Deutschland zurückkehrte und er immer häufiger krank, schwer krank wurde, stellte sich die HIV-Infektion heraus. "Die ersten zehn Jahre mit Aids waren ein einziges Versteckspiel. Ich nahm es hin, dass ich einmal im Jahr im Krankenhaus lag und arbeitete um so verrückter, wenn ich wieder rauskam. Ich baute ein zweites Haus, kaufte mir ein großes Auto, nahm viel zu viele Aufträge an, alles, um mir irgendwie zu beweisen: Ich bin trotzdem noch was wert."

Im Dorf erzählte er, er habe Blutkrebs, auch seine Eltern, seine Frau hielten es so. Sie alle waren gefangen darin, mit niemandem offen über die Situation sprechen zu können. "Wäre da damals ein Prominenter gewesen, der sich geoutet hätte, meine Eltern hätten mir viel besser helfen können. Oder sie hätten sich als Angehörige Hilfe gesucht. So aber schien es, als hätte ich eine Art Krankheit des Teufels. Als sei ein übergroßes Unglück über uns alle gekommen, durch meine Schuld. Die misstrauischen Blicke und Gedanken der anderen - das hätten wir alle nicht ertragen."

Vor fünf Jahren, als er sich mal wieder kraftlos aus dem Krankenhaus schleppte, schloss er sich in Hameln einer Reikigruppe an, in der Hoffnung, dass diese alte Heilmethode ihm helfen könne - und tatsächlich begann damit eine Wende in seinem Leben. In der Gruppe ging es darum, frei von den eigenen Problemen zu reden. Zum ersten Mal erzählte er fremden Menschen, dass er Aids habe und nicht mehr wisse, wie er weiterleben soll. "Das Wunder geschah: Niemand wich vor mir zurück! Im Gegenteil, ich wurde umarmt! Getröstet. Bestärkt. Alles lief ganz selbstverständlich. Das hätte ich niemals zu glauben gewagt."

Er gab seinen Beruf als Tischlermeister auf und begann eine Ausbildung zum Reiki-Meister. Er verliebte sich neu und trennte sich von seiner Frau. Er redete mit seinen Freunden über sein Leben und nahm in Kauf, dass manche Beziehungen zerbrachen, dafür aber neue Beziehungen entstanden, Freundschaften, in denen das das Geheimnis von Beginn an nicht mehr gab. In Aerzen eröffnete er eine Praxis für Reiki und Lebensberatung. Und schließlich, als die Reise nach Afrika beschlossen war, wendete er sich an die Zeitung, um zu verkünden, dass er sich nun als eine Art Botschafter auf den Weg machen werde. Im Internet eröffnete er seine Homepage "www.reise-der-hoffnung.info", wo er von unterwegs aus Reiseberichte einstellte.

Das kleine gelbe Auto leistete ihm treue Dienste. Nicht nur, dass der Fiat 500 erstaunlich gut durchhielt, selbst auf Schotterpisten und im Wüstensand von Marokko, er erregte auch überall größte Aufmerksamkeit. Keine Station in Spanien oder Nordafrika, wo die Leute ihn nicht fotografierten, Grenzer nicht begeistert sein Auto begutachteten. Überall kam er ins Gespräch, reichte den Menschen die Hand, darunter auch Politikern und Managern, die seine ausgestreckte Hand, so erzählt er, auch dann noch annahmen, wenn sie von seiner Aids-Erkrankung erfuhren. "Ich stand sicher da und unverbogen. Das ändert einfach alles!"

Und er besuchte die Aids-Selbsthilfeorganisationen vor Ort. "Natürlich konnte ich nicht wirklich helfen", sagt er. "Ich konnte nur auftauchen als einer, der ebenfalls HIV-infiziert ist und dazu steht." In vielen Gesprächen auch mit Patienten in den Krankenhäusern erfuhr er ganz konkret, wie sehr das Aidsthema in Nordafrika tabuisiert wird. Die Selbsthilfeorganisationen hätten nur wenig Klienten, weil niemand wage, sie zu kontaktieren, aus berechtigter Furcht, damit in Familie und sozialen Umgebung ein Ausgestoßener zu werden. Selbst die Kondome könnten nur mit komischen Tricks unter die Leute gebracht werden, weil ihre Verwendung für ungezügelten Sex stehen würde.

Weit über 13.000 Kilometer fuhr Burkhard Hildebrandt über Land. Seine Erfahrungen mit sich selbst, seinem Fiat 500 und den Menschen, denen er begegnete, schrieb er auf und es entstand ein Buch mit dem Titel „Einmal Sahara und zurück mit 23 PS", das im Dezember in Hameln vorgestellt werden wird. Fernsehsender brachten kleine Reportagen über diese Reise, eine Autozeitschrift veröffentlichte seinen Bericht und bereits im nächsten Jahr will er einer Einladung in die Ukraine folgen, um dort ebenfalls mit Betroffenen zu sprechen.

Das alles sind Markierungen für ein verändertes Leben. In Zukunft wird Burkhard Hildebrandt Bildvorträge halten, ein Reisebericht, der zugleich Aufklärungsarbeit sein und diese "Botschaft der Hoffnung" für alle von Aids betroffenen Menschen bringen soll. "Vielleicht werde ich für einige Leute dieses Vorbild sein, das ich selbst so sehr vermisste", sagt er. "Vielleicht werden andere es mir nachtun. Vielleicht tragen meine Aktionen dazu bei, dass Aids nicht totgeschwiegen wird, sondern wenigstens als Krankheit gilt, die nicht anders zu bewerten ist, als andere schwere Krankheiten auch."