Donnerstag, 7. August 2014

Von Cornelia Kurth

Windeln, Stoffwindeln, Schlitzhosen


Pippi Langstrumpf hätte sie erfinden können, in einer ihrer wilden Geschichten über weit entfernte Länder, die "Kaidangku" nämlich, real existierende sogenannte Schlitzhosen, die fast alle Babys und Kleinkinder in China tragen, damit sie schnell und unkompliziert ihre großen und kleinen Geschäfte erledigen können, ohne dabei die Hose ausziehen zu müssen. Kaidangku, die Schlitzhosen, sie sind zwischen den Beinen offen und lassen einen Teil des Pos frei. Die meisten chinesischen Kinder tragen keine Windeln, und schon gar nicht die Wegwerfwindeln, die hierzulande das A und O rund um die Babypo-Hygiene sind. Wäre ein windelfreies Konzept auch irgendwie etwas für deutsche Eltern?
Kirsten Dornbusch, Familienhebamme im Landkreis Schaumburg muss herzlich lachen über diese Frage. "Windelfrei? Und gar noch Schlitzhosen? Vollkommen abwegig bei allen Eltern, mit denen ich zu tun habe. Niemand denkt auch nur ansatzweise über eine Alternative zur Wergwerfwindel nach." Tanja Steilen, die in Hameln die "Elternschule" leitet und unter anderem Stillberaterin ist, sie berichtet genau dasselbe, ebenso wie die Hamelner Frühförderkraft Anke Battmer, die im "BaKi" Baby- und Kleinkindkurse anbietet. "Es wäre durchaus möglich, ohne Windeln auszukommen", das sagen alle drei. "Aber", so Kirsten Dornbusch, "dafür müssten sich die Eltern ihren Kindern anpassen und nicht umgekehrt die Kinder den Bedürfnissen ihrer Eltern."
Wäre es denn überhaupt im Sinne kleiner Kinder, sie möglichst ohne Wickeln und Windeln aufwachsen zu lassen? Und wie, bitte, soll das denn gehen? Von China-Reisenden jedenfalls hört man allerlei Schauergeschichten über Kinderkot und -urin, der selbst in den Zentren großer Städte die Straßen und öffentliche Einrichtungen verschmutze. Wollen, sollten Kleinkinder jederzeit und überall ihre Geschäfte verrichten dürfen? Oder ist nicht vielmehr die Erfindung der Windel, speziell der bequemen und komfortablen Wegwerfwindel, ein Segen für alle Beteiligten?
"Das ist nicht leicht zu beantworten", sagt Tanja Steilen von der "Elternschule". "Insgesamt haben wir alle uns sehr weit entfernt von dem, was man 'natürlich' nennen könnte." Sie erlebe ständig, wie verunsichert Mütter und Väter im Umgang mit ihren Babys seien. Viele hätten geradezu einen Sauberkeitstick, nicht nur in Bezug auf die Ausscheidungen der Kleinen, sondern überhaupt mit allem, was das Spielen im und mit Dreck betrifft. Und nackt herumlaufen lassen sie die Kinder schon gar nicht. Mehr Unbefangenheit in Bezug auf die kindliche Körperlichkeit, das wünschten sich alle drei Fachfrauen. Andererseits: "Die Wegwerfwindeln sind ja perfekt an den modernen Familienalltag angepasst", so Tanja Steilen. "Sie sitzen gut, saugen die Flüssigkeit so auf, dass der Po lange trocken bleibt, und vor allem muss man nicht groß darauf achten, ob ein Kind in unpassenden Situationen mal muss."
Wer sein Kind "windelfrei" aufwachsen lassen möchte - in manchen Städten gibt es entsprechende Vereine, wo sich Eltern genau zu diesem Zweck zusammentun - der wird sich dabei auf ein besonders enges kommunikatives Verhältnis zum Baby und Kleinkind einlassen. Dann erkennt man, dass schon die kleinen Babys unwillkürliche Zeichen geben, wenn sie "müssen". Hält man es im passenden Moment ab und macht dazu ein immer gleiches Geräusch - in China ist es eine Art Pfiff, in Frage kommt auch ein "tssssst" - dann kann sich bereits in den ersten Lebensmonaten ein Wechselspiel zwischen Eltern und Babys entwickeln, das schließlich zu einem erstaunlich frühem Trockenwerden führt.
In China und auch in anderen Ländern, wo es normal ist, dass Kinder keine Windeln tragen, sind sich die Kleinen oft schon mit einem Jahr ihrer Ausscheidungen so bewusst, dass sie absichtlich signalisieren können, wann es soweit ist. Chinesische Eltern haben oft ein tatsächlich auch "China-Töpfchen" genanntes kleines Gefäß dabei, das es in besonderen Läden auch in Deutschland zu kaufen gibt. "Es wäre aber gewiss sehr ungewöhnlich, wenn hiesige Eltern umstandslos so ein Töpfchen hervorzögen", so Familienhebamme Kirsten Dornbusch. "Für ein 'Windelfrei' ist unsere Gesellschaft einfach nicht eingerichtet."
Das sind und waren allerdings auch andere und viel frühere Gesellschaften nicht. Die göttliche Maria wickelte den Bibelworten nach ihren Jesus-Sohn in Windeln. Im mittelalterlichen Europa waren es oft Lein- und Schafwollhöschen, die mit Heu oder Stroh ausgestopft wurden. Die ländliche Bevölkerung Afrikas nutzt bunte Wickeltücher, die bei Bedarf am nächsten Fluss ausgewaschen werden, und die Babys der Inuit tragen Lederwindeln mit einer Mooseinlage. Auch unsere unmittelbaren Vorfahren benutzen selbstverständlich Stoffwindeln für die Kleinen, die jede Menge Arbeit verursachten, gab es doch in den wenigsten Groß- und Urgroßelternhaushalten bereits Waschmaschinen, so dass die verdreckten Tücher erst grob gereinigt und dann in großen Töpfen ausgekocht wurden.
So erschien es vor allem den Müttern wie ein Geschenk des Himmels, als im Jahr 1973, 12 Jahre, nachdem sie in Amerika herausgekommen waren, die ersten Wegwerfwindeln auf den Markt kamen, die "Pampers". Deren Name leitet sich vom englischen "to pamper" ab, was so viel wie "verwöhnen" heißt, und dieses "Verwöhnen" bezog sich nicht nur auf den Babypo, sondern auch auf die Hausfrau, deren Leben durch diese Erfindung so spürbar erleichtert wurde.
Diese Windel-Revolution fordert allerdings einen hohen Preis in Form von geradezu gigantischen Müllbergen. Da Kinder in den superbequemen Windeln kaum etwas davon merken, wenn sie bereits voll gemacht sind, dauert es meistens die ersten zweieinhalb bis drei Lebensjahre, bis sie auf die Schutzhülle rund um den Po verzichten können. Etwa 5000 Windeln verbraucht das durchschnittliche Kind, allein in Deutschland fallen jährlich um die 340 Tausend Tonnen höchst problematischen Windelmülls an, dessen Kunststoffbestandteile 300 Jahre und mehr brauchen, um zu verrotten.
Als sich nachdenkliche Eltern dieses Problems vor etwa 20 Jahren zum ersten Mal bewusst machten, gab es einen kleinen Boom auf Stoffwindeln, solange, bis die Windelindustrie in großen Kampagnen verbreitete, dass diese wegen des hohen Reinigungsaufwandes letztlich umweltschädlicher seien als die Wegwerfwindeln. "Ich selbst habe meine drei Kinder auch in Stoffwindel gewickelt", so Tanja Steilen. "Aber es war schon mit ziemlich viel Arbeit verbunden."
Heute könnte das ganz anders aussehen, das betonen die drei erfahrenen Frauen. "Die modernen Stoffwindel-Systeme sind eigentlich die perfekte Alternative zur Einwegwindel", so Anke Battmer von "BaKi". "Ich überlege sehr, ob ich nicht in Süddeutschland, wo sie üblicher sind, eine Ausbildung zur 'Stoffwindel-Beraterin' absolviere." Die aktuellen Windelhöschen haben kaum noch etwas mit den traditionellen Stoffwindel gemein. Sie bestehen aus einem Überhöschen in, falls gewünscht, ziemlich poppigem Design, in welches ein spezielles Vlies eingelegt wird, dass sich umstandslos und ökologisch fast neutral entsorgen lässt. Das Höschen selbst muss nur alle paar Tage gewaschen werden.
Trotzdem hatten weder Kirsten Dornbusch noch Anke Battmer und Tanja Steilen bisher eine Chance, solche Windelsysteme ihrer Elternklientel nahezubringen. "Sowas ist einfach kein Thema", sagt Tanja Steilen. "Die Einwegwindel hat sich überall in den Köpfen eingebrannt, und man müsste für einen Einkauf auch bis nach Hannover fahren oder sich übers Internet kundig machen." Nicht nur die etwas teure Erstausstattung schrecke Eltern ab (und das, obwohl sich die Investition in kürzester Zeit amortisiert), sondern auch das, was sie den "Verlust der Natürlichkeit" nennt und was auch Kirsten Dornbusch feststellt: "Viele Eltern fürchten sich vor den Ausscheidungen ihrer Kinder, und sie fürchten auch, was nicht der Fall ist, es könne den Kindern schaden, wenn sie mal etwas länger mit den Ausscheidungen in Kontakt bleiben."
Die Wegwerfwindel-Industrie ist aktuell dabei, sich den chinesischen Markt zu erobern und "Kaidangku" langsam zu verdrängen. Setzen Pampers und Konsorten sich dort endgültig durch, kämen jährlich über neun Millionen Tonnen Windelmüll hinzu. "Wirklich - ich sollte Stoffwindelberaterin werden", so Anke Battmer. "Das wäre immerhin ein Anfang zum Umdenken."

Seeigel, Donnerkeile und Fossilien - Rügen und Schaumburg

Von Cornelia Kurth

Peter Kujath aus Emmerthal kennt dieses starke Gefühl, Mike Polschinski kennt es ebenfalls, und auch ich sehne mich immer wieder danach, es neu zu erleben, dieses ganz bestimmte Glücksgefühl, das etwas Kindliches hat, weil der Anlass dafür so harmlos ist und auch, weil viele einen dafür belächeln. Es baut sich auf beim geduldigen Suchen und überflutet einem beim Finden von - Versteinerungen. Seeigel etwa, die aussehen können wie am Strand verloren gegangene Schmuckstücke, sie lösen aus, was Hobby-Paläontologe Mike Polschinski so umschreibt: "Das Glück, etwas einst Lebendiges in den Händen zu halten, viele Millionen Jahre alt, und noch nie zuvor hat es ein anderer Mensch berührt."

Polschinski ist Sprecher des Paläontologischen Arbeitskreises Porta Westfalica, Peter Kujath handelt mit Versteinerungen und Mineralien, und ich bin eine von denen, die Sommer für Sommer stundenlang über steinige Strände an der Ostsee wandern, das Rauschen des Meeres im Ohr und die Augen zu Boden gerichtet, um sie über die unendlich vielen Steine schweifen zu lassen. Seeigel können faustgroß sein oder klein wie ein Knopf. Manchmal sind sie perfekt erhalten mit ihren fünf sternförmigen Streifen und den fein angeordneten Punkten dort, wo einst die Stacheln saßen, meistens allerdings findet man Bruchstücke. Mein Blick ist so geübt, dass ich im Steingewirr selbst kleinste, abgeschrabbelte Teile entdecke, und auch diese erfreuen mich.
"Ja, Sie suchen Versteinerungen, die die Natur bereits präpariert hat", sagt Peter Kujath. "An der Ostsee befreit das Meer die Fossilien aus dem umgebenden Gestein und schenkt Ihnen fix und fertig ein schönes Stück. Ich bin ja eher mit Hammer und Meißel unterwegs." Jedenfalls dann, wenn er sich zum Beispiel aufmacht in den aufgelassenen Steinbruch Pötzen im Süntel, wo jedermann nach Versteinerungen suchen darf, die zwar nur selten einfach so herumliegen, sondern noch im Gestein festsitzen, dafür aber nicht die typischen Schleifspuren zeigen, die entstehen, wenn ein Stein zwischen anderen Steinen von den Wellen hin und hergestoßen wurde.
Da das Weserbergland, wie ganz Norddeutschland, vor rund 150 Millionen Jahren Teil eines Meeresbodens war, gehören in erster Linie Seelilien, kleine Muscheln und ab und zu auch ein Seeigel zu den Fundstücken. In Kreidegruben sind sie wie eingebacken in eine bröckelige weiße Kreideschicht und müssen mit Drahtbürste, Stichel oder einem kleinen Schleifgerät freigelegt werden. Peter Kujath liebt es, sich mit dieser durchaus meditativen Arbeit zu beschäftigen, obwohl sich mit solchen Dingen kein Geld verdienen lässt. Kaum jemand kauft Versteinerungen, die ein anderer gefunden hat, abgesehen von wirklich prächtigen Ammoniten oder Abdrücken von Tieren, die sich zwischen Sandsteinplatten erhalten haben.
An der Ostsee steht das glückliche Finden im Mittelpunkt der Liebe zu Versteinerungen, und dazu die Atmosphäre am Wasser und unter der Steilküste, wo man meistens ganz alleine ist, übliche Touristen zieht es an die für Steinesucher langweiligen Badestrände. Mit Bruder und Schwester, wir drei seit unserer Kindheit fasziniert von versteinerten Seeigeln, und auch von den "Donnerkeilen", den orange-leuchtenden, pfeilspitzenähnlichen Überresten bereits ausgestorbener Tintenfische, den Belemniten, mit ihnen war ich gerade auf der Insel Rügen, dort, wo aus der hochhaushohen Kreideküste ständig neue Fossilien herausbrechen. Mit unserer kleinen Reise erfüllten wir uns den langgehegten Traum, ungehindert von familiären Pflichten Stunden und abermals Stunden unterwegs zu sein.
Die Schätze, die dort auf einen Finder warten, man bezahlt sie mit dem eigenartigen Gefühl, ständig unter einem Damoklesschwert zu wandern, so extrem steht die Kreidewand über dem schmalen Strand, so, als könnten einen Abbrüche jeden Moment unter sich begraben. Bäume neigen sich über den Rand in 30, 40 Meter Höhe, andere, mächtige Stämme stecken kopfüber in der Steilwand oder versperren den Weg, so dass man sich beim Ausweichen nasse Füße im Meer holt, dessen Wogen heranrollen. Dafür rufen einen auf Schritt und Tritt die Donnerkeile herbei, die man weniger findet als vielmehr einfach aufhebt. Die Rügener Seeigel versteinerten in Feuerstein, sie sind hellblau, dunkelblau, grau, schwarz, weiß und oft so groß, dass der Rucksack langsam immer schwerer wird. Unmöglich aber kann man sie liegenlassen.
Versteinern, was genau das in Bezug auf die meisten Seeigel bedeutet, erklärt Dr. Detlef Grzegorczyk, im Münsteraner LWL-Museum für Naturkunde zuständig im Bereich der paläontologischen Bodendenkmalpflege. Die abgestorbenen Tiere sanken damals auf den Meeresboden, wo sie ihre Stacheln verloren und von allerlei Tieren gefressen wurden, bis nur noch ihre Hülle übrigblieb, die sich mit Sedimenten ausfüllte, so, dass ein genaues Stein-Abbild des Tieres entstehen konnte. Manchmal bleibt die Kalkschale erhalten und glitzert in der Sonne mit ihren wie eingemeißelten Schuppenreihen. Mund und Anus sind dann genau zu erkennen, als Teil der kunstwerkähnlichen Maserung.
Im Schneckentempo nur kommen wir bei der Suche an der Rügener Küste voran. Bückt sich einer von uns, um etwas aufzuheben, stoppen auch die anderen: Wo ein Seeigel ist, sind meistens noch mehr. Wie Kinder zeigen wir uns die Funde, begutachten sie genau, gar nicht nach wissenschaftlichen Kategorien, sondern daraufhin, wie wunderschön sie aussehen, wie gut sie erhalten sind, wie sanft sie in der Hand liegen, und wir führen dabei die Gespräche, die seit Jahrzehnten immer dieselben sind: Wie es nur kommt, dass diese Spuren von Urzeitleben uns so sehr bewegen.
Mike Polschinski, der das alles auch so gut kennt, er freilich lässt den wissenschaftlichen Blick nicht außen vor. "Unsere Region hat weltweite Bedeutung", sagt er. "Nicht nur ist sie Dinosaurierland, wo man tatsächlich versteinerte Dinosaurier-Knochen finden kann. Damals herrschte zudem ein subtropisches Klima mit reicher Flora und Fauna im Urmeer." Schade nur, dass man als Suchender kaum auf Zufallsfunde hoffen kann. Außerhalb von Steinbrüchen und Kreidegruben entdecke man höchstens hier und da mal winzige Muscheln an Waldböschungen oder auf frisch umgepflügten Ackerrändern. Alles andere ist im Gestein versteckt, und auch noch aus anderen Gründen nicht frei zugänglich.
Ohne spezielle Genehmigungen darf man nicht einfach Steinbrüche und Gruben betreten oder sich sonstwie auf Privatgelände zum Sammeln herumtreiben. Wenn Mike Polschinski als Mitarbeiter des Bergbaumuseums von Kleinenbremen als einziger weit und breit mehrmals im Jahr Führungen zu Fundstellen anbietet, dauert es vorher oft Monate, bis er die entsprechenden Erlaubnisse von den Firmen, denen das Gelände gehört, erhalten hat. Auch da, wo nicht mehr gearbeitet wird, kann es gefährlich sein, an den steilen Hängen herumzuklettern. Der alte Steinbruch Pötzen mit seinem freien Zugang für alle ist da eine Ausnahme.
Hat die Vorbereitung aber geklappt, dann können bis zu 25 Interessierte an so einer Exkursion teilnehmen, auch Kinder ab acht Jahren. Hammer, Meißel, Handschuhe und am besten auch eine Schutzbrille sollten im Gepäck sein, die Kleidung muss geländetauglich sein, besonders das Schuhwerk, und jeder bekommt Schutzhelm und Warnweste gestellt. Den ganzen Tag ist man dann unterwegs, und wenn alles gut läuft, bringt man versteinerte Ammoniten, Muscheln, Fischzähne und Pflanzen mit nach Hause. Seeigel und Donnerkeile werden kaum dabei sein, aber, so Polschinski, das Glücksgefühl des Suchens und Findens, das sei auch im Weserbergland zu haben. Eben überall da, wo Wesen aus der Vergangenheit von Hundertmillionen Jahren zu uns sprechen, davon, dass sie lebten, die Meere bevölkerten, dass sie untergingen und trotzdem irgendwie noch da sind.

Von Cornelia Kurth

Ziegenmilch und Schafskäse für Vegetarier


Dass Bücher über eine vegane Lebensweise aktuell die Bestsellerlisten erobern ist kein Wunder. Nicht nur Tiere, die als Fleischlieferanten dienen, leben unter Bedingungen, die empfindsamen Menschen den Appetit verderben können, auch die über vier Millionen Milchkühe Deutschlands werden in der modernen Massentierhaltung eher wie Melkmaschinen denn wie Lebewesen behandelt. Wer sich mit halbwegs gutem Gewissen ernähren will, müsste eigentlich auch Milch, Jogurt, Quark und all die wunderbaren Käsesorten vom Speisepan streichen. So jedenfalls sieht es die Ernährungsberaterin Brigitte Ahrens aus der Verbraucherzentrale Niedersachsens in Hannover: "Im Grunde sollte man auf Milchprodukte ganz verzichten", sagt sie.
Diese ziemlich radikal wirkende Aussage von offizieller Stelle fällt in einem Gespräch über Alternativen zu Kuhmilchprodukten. Milchkühe sind auf Hochleistung gezüchtete Tiere, die mit speziellem Kraftfutter ernährt werden, um es durchzuhalten, ihr riesiges, für Krankheiten sehr anfälliges Euter täglich mit an die 40 Liter Milch anzufüllen. Sie können sich kaum bewegen, ihre Lebensspanne im meist engen Stall beträgt nur wenige Jahre, die Kälber werden sofort von den Muttertieren getrennt, kurz: Vegetarier müssten, um konsequent zu sein, neben Fleisch und Wurst auch den Käse auf den Index setzen. Gibt es denn wirklich keine Milchprodukte, die man mit gutem Gewissen verzehren kann?
Tatsache ist: Die radikale Lösung, sich nur noch an der veganen Kühltheke von Bioladen und Reformhaus zu bedienen, die werden echte Genießer kaum durchhalten. Die Milch selbst, dazu auch Jogurt und eventuell Quark zwar lassen sind einigermaßen durch Soja-Produkte ersetzen. Wohlschmeckender Käse aber ist ohne Milch nicht zu haben. Das bestätigt sogar die engagierte Inhaberin des Rintelner Reformhauses Sabine Korf, die ansonsten sehr überzeugend solche Kunden berät, die sich einer veganen Ernährungsweise annähern wollen. "Es ist so - Soja-Käse wird immer etwas trocken schmecken. Mit Soja kann man weder Geschmack noch Konsistenz von echtem Käse erreichen." Sie empfiehlt raffiniert gewürzten Streichkäse, der sich sogar zum Überbacken eignet. Doch immer nur Streichkäse oder langweilige Käsescheiben aus der Plastikverpackung für Menschen, die gleichzeitig ja auch auf Wurst verzichten? Deprimierende Aussichten.
Ernährungsberaterin Brigitte Ahrens sieht da nur einen widerspruchslosen Weg: "Man müsste sich von der traditionellen Ernährungsweise verabschieden", sagt sie. "Die üblichen Brotmahlzeiten mit Aufschnitt jedenfalls, die lassen sich auf Dauer kaum mit Alternativprodukten fortführen." Wer sich mit Gemüsepasten und auch selbst zubereiteten Dipps arrangiere, stehe gut da. Doch viele der veganen Produkte, die mit Hilfe von Soja-Eiweiß Wurst- und Käseaufschnitt nachahmten, hätten neben dem oft unbefriedigendem Geschmackserlebnis noch andere eher problematische Seiten. Sie erfordern zu ihrer Herstellung eine hoch technologische Verarbeitung, enthalten zahlreiche Zusatzstoffe und seien insgesamt zu stark aufgeschlossen, um wirklich für eine ausgeglichene Ernährung empfehlenswert zu sein, ganz abgesehen von den Umweltaspekten der verstärkten Soja-Produktion. "Tofu ja, aber texturiertes Soja - hm..."
Nun geben nicht nur Kühe Milch, sondern auch Ziegen und Schafe. Anders als selbst das unter Biohof-Bedingungen gehaltene, aber ebenfalls allermeistens radikal auf Hochleistung gezüchtete Bio-Milchvieh, eignen sich Ziegen und Schafe nicht für die Massentierhaltung, so wenig jedenfalls, dass Massenställe ohne geeignete Auslauf-Möglichenkeiten vom deutschen Tierschutzgesetz her verboten sind. Das musste auch die Firma Petri-Feinkost hinnehmen, als sie vor einigen Jahren plante, in der Domäne Heidbrink im Landkreis Holzminden 7.500 Milchziegen in drei Großställen zu halten. Im Jahr 2010 wurde dieses deutschlandweit erste Vorhaben einer industriellen Ziegenhaltung vorerst gestoppt.
Leider allerdings sucht man in den Landkreisen Hameln/ Pyrmont und Schaumburg vergeblich nach Produzenten von Ziegen- oder Schafsmilchprodukten. Schaumburger Bürger können sich nach Warmsen im Landkreis Nienburg aufmachen, zur Ziegenkäserei der Familie Barthold, die ihre Produkte jeden Sonntag im Hofladen verkauft, dazu sogar auch per Post versendet. Und die Hamelner immerhin haben es nicht weit bis zum "Ziegenbauer" Willfried Penske und seiner Hofkäserei in Tuchtfeld/ Halle im Landkreis Holzminden. Drei zum Teil vom Aussterben bedrohte Ziegenrassen züchtet er dort, die sowohl Milch als auch Fleisch geben. Mehrere Käsesorten, die auf schonende Weise in seiner Käserei hergestellt werden, verkauft er zusammen mit Ziegenbutter auf Wochenmärkten und direkt im Hofladen. Einmal im Jahr lammen die meisten seiner Muttertiere. "Man könnte sie auch an die drei Jahre einfach durchmelken", sagt er. "Aber bei uns sind die Milchprodukte zugleich Saisonprodukte."
Seine Ziegen leben in offenen Ställen mit Auslauf und weiden zum Teil auch auf den Hängen des Ith und rund um Tuchtfeld. Die Zicklein bleiben nach der Geburt zunächst bei der Mutter, bevor sie dann mit Heu und Kraftfutter ihr Schlachtgewicht erreichen. "Ohne die Zucht von Schlacht-Zicklein gäbe es meine Ziegen nicht", sagt er. Und auch nicht diejenigen der insgesamt nur 20 Erwerbsziegenhalter in ganz Niedersachsen, als deren Sprecher Willfried Penske fungiert. "Wer überhaupt will, dass Ziegen und Ziegenmilchprodukte existieren, der muss auch damit einverstanden sein, dass Ziegenfleisch gegessen wird."
Nicht anders sieht das Karla Ebert, die in Lemgo Schafe züchtet und einen Bio-Hofladen betreibt. "Wer Milch verbraucht, sollte auch Fleisch essen", meint sie. "Es würde wirtschaftlich keinen Sinn machen, die Lämmer nur zum Spaß aufzuziehen, und natürlich auch nicht, sie gleich nach der Geburt zu töten, nur um die Milch zu haben. Wenn wir Schafe nicht schachten würden, gäbe es eben keine Schafe." Wofür sie eintreten kann: Dass ihre Tiere ein "vernünftiges" Leben führen, in offenen Ställen und auf Weiden in der Umgebung. Die Produktion von Schafsmilch-Produkten allerdings hat sie vor anderthalb Jahren eingestellt. "Es ist so viel Arbeit und so wenig Lohn", sagt sie. "Die wenigstens Menschen sind bereit, einen angemessenen Preis für Schafskäse zu bezahlen."
So ist es nicht weiter erstaunlich, dass Thorsten Brunkhorst, in der Landwirtschaftskammer Niedersachsen für die Schafzüchter zuständig, keine entsprechenden Betriebe in unseren beiden Landkreisen ausfindig machen kann. Die Schaumburger an der Grenze zum Lipperland aber können sich auf den Weg zu Christian Hüls in Blomberg-Höntrup machen, der im Nebenberuf eine kleinere Schafszucht führt und allerlei Käse, sogar Jogurt produziert, die das Gütesiegel "Lippequalität" tragen dürfen, was unter anderem bedeutet, dass seine Tiere artgerecht leben und ihre Milch-Produkte gentechnikfrei hergestellt werden. Die Lämmer dürfen bis in den Sommer hinein auf der Weide herumlaufen, die Ware ist in lippischen Hofläden und einigen Supermärkten erhältlich.
Brigitte Ahrens, die Ernährungsberaterin in der Verbraucherzentrale Hannover, sie will, bei aller fatalistischen Blickweise auf die ethische Problematik rund um Milchprodukte, keineswegs dafür plädieren, insgesamt auf Käse und Quark, Milch und Jogurt zu verzichten. Diese radikale Empfehlung gilt nur solchen Konsumenten, welche sichergehen wollen, dass sie auf gar keinen Fall teilhaben an tierverachtenden Produktionsweisen. "Milchprodukte unterliegen keiner Kennzeichnungspflicht über das Herkunftsland", sagt sie. "Selbst wer Ziegen- oder Schafskäse im Supermarkt kauft, kann nicht wissen, ob die Milch aus dem europäischen Ausland stammt, wo es, anders als bei uns, erlaubt ist, diese Tiere gegen ihre Natur in Massenhaltung zu züchten." Zudem bestünde speziell Ziegenkäse oft nur zu geringem Teil aus Ziegen- und überwiegend aus Kuhmilch. "Es ist so kompliziert, das weiß ich auch aus eigener Erfahrung, die richtigen Auskünfte zu bekommen und Zeit und Geld in die Informationsbeschaffung zu investieren, um Märkte und Hofläden zu finden, die genau das anbieten, was man sucht."
Ihr Kompromiss-Vorschlag zur Gewissensberuhigung für alle, die keine Schaf- oder Ziegenkäserei in erreichbarer Nähe haben: Die Beschränkung auf solche Öko-Milchprodukte aus Reformhaus und Bio-Laden, bei denen eine artgerechte Haltung einigermaßen garantiert ist. Das könne durchaus auch Kuhmilchprodukte betreffen, die nicht immer von Hochleistungs-Milchkühen stammen. "Doch solange wir nicht eine differenzierte Kennzeichnungspflicht besitzen, bieten nur direkt begutachtete Produzenten vor Ort die Möglichkeit, sich von einer als unethisch empfundenen Tierhaltung zu distanzieren."
Von Cornelia Kurth

Verlieren und Wiederfinden

Selten wurde der Hausrat von Michael und Brigitte Kühn aus Rinteln so genau unter die Lupe genommen. Zwei Tage lang durchwanderte das ältere Ehepaar alle Räume, zog sämtliche Schubladen auf, beugt sich unter jedes Möbelstück und selbst Küchen- und Badezimmerschränke wurden durchsucht, alles in der Hoffnung, ein verlegtes Schlüsselbund mit Haus- und Autoschlüsseln wiederzufinden. Vergebliche Mühe - die Schlüssel bleiben verschwunden. Wo nur könnten sie sein? Wie lassen sie sich wiederfinden? Hatten da etwa die "Borgmännchen" ihre Finger im Spiel?

"Wir reden über nichts anderes mehr", sagt Michael Kühn. "Habe ich den Schlüssel vielleicht vor der Haustür verloren und jemand hat ihn eingesackt?" Inzwischen denkt er darüber nach, die Haustürschlösser auszutauschen und ein neues Schloss ins Auto einbauen zu lassen. "Unsinn!", sagt seine Frau. "Hier ist eine gute Wohngegend, man würde uns den Schlüssel ja wohl zurückgebracht haben, wenn Du ihn direkt vor dem Haus verloren hättest." Bei dem, was sie sagt, schwingt ein leicht vorwurfsvoller Ton mit. Schließlich war es ihres Mannes Zerstreutheit gewesen, wodurch sie nun beide darüber spekulieren müssen, ob demnächst wohl ihr Auto geraubt sein wird oder sie ungebetenen Besuch erhalten.
Ginge es nach dem Rat von Horst Weber, der in der Rintelner Ritterstraße einen kleinen Schlüsseldienst führt und seit fast 30 Jahren berufsbedingt mit manchmal richtig verzweifelten Menschen zu tun hat, dann gälte die Formel: "Dreimal neue Schlosszylinder, dreimal neue Sicherheit!" Böse Buben, so sagt er, könnten sehr wohl die Gelegenheit zu einem Einbruch nutzen und dann würden sie noch nicht mal Spuren für Polizei und Versicherung hinterlassen. Michael und Brigitte Kühn wissen das natürlich. Eigentlich. Sie sagen sich aber: "Die Diebe wären doch schon längst dagewesen", und drücken sich vor den Umständen eines vielfachen Schösseraustausches. Was sie nicht loslässt, weder beim Frühstück, noch beim Abendessen noch wenn einer von ihnen nachts aufwacht: Die Schlüssel müssen doch irgendwo sein!
Die beiden haben durchaus Regeln einer disziplinierten Suche befolgt. Nach einer ersten eher hektischen Herumsucherei setzten sie sich hin und rekonstruierten, wann Michael Kühn das Schlüsselbund zum letzten Mal in der Hand hielt. Als er am Tag zuvor mit dem Auto aus der Stadt zurückgekommen war, hatte er die Tür aufgeschlossen, also musste das vermisste Ding doch innerhalb der Wohnung zu finden sein. Doch weder in der dafür vorgesehenen Schublade, noch auf dem Schreibtisch im Flur, weder in der Garderobe, in den Gummistiefeln unterhalb der dort aufgehängten Mäntel oder in den mitgebrachten Einkaufstaschen, weder auf dem Küchentisch, in der Speisekammer oder dem kleinen Gästebad war der Schlüsselbund zu entdecken.
Nachdem sie sogar das obere Stockwerk systematisch abgesucht hatten, Sofakissenritzen und Betten nicht ausgenommen, riefen sie ihre Haushaltshilfe an. Wenn man sich selbst schon ganz verrückt gemacht hat, ist es sinnvoll, einen unaufgeregten Dritten hinzuzuziehen. Es kommt vor, dass eine verlegte Sache, für die es normalerweise einen festen Platz gibt, ausnahmsweise schlicht am anderen Ende des Schreibtisches liegt - und man sieht sie dann nur mit unvoreingenommenem Blick. Ein Helfer außerdem kann dafür sorgen, dass man mit neuem Mut noch einmal mit dem Suchen beginnt, dabei ruhig und im Uhrzeigersinn durch die Wohnung wandert, nicht mehr zurück sieht, wo man schon nachgeguckt hat und dann wirklich sicher ist, keine Stelle ausgelassen zu haben.
Bei den Kühnes hilft auch das nichts. Die Haushaltshilfe schlägt vor, zum Heiligen Antonius zu beten. Dem hatte einst ein Mönch den Psalter entwendet und dann reuig zurückgebracht, nachdem er von Erscheinungen geplagt worden war. "Glorreicher Heiliger Antonius, lass mich das Verlorene wiederfinden und zeig mir so deine Güte", diese Worte soll man zum Heiligen beten, den man weltweit dafür auserkor, ein Helfer beim Suchen und Finden zu sein. Glaubt man entsprechenden Berichten im Internet, ist er dabei ausgesprochen erfolgreich, allerdings vor allem dann, wenn es darum geht, einen Finder dazu zu bringen, die Sache dem wahren Eigentümer zurückzugeben.
Tatsächlich gibt es eine ganze Menge verantwortungsvoller Finder, speziell was verlorene Schlüssel betrifft. "Schlüssel, ja, die werden bei uns häufig abgegeben", sagt etwa der Hamelner Polizeibeamte Guido Krosta. "Das gehört zu unserem täglichen Geschäft." Da viele Leute gar nicht wüssten, wo sich das Fundbüro befindet, wohl aber wo die nächste Polizeistation liegt, die ja außerdem rund um die Uhr und auch am Wochenende geöffnet ist, ergäbe sich eine richtiggehende Zusammenarbeit zwischen Polizei und Fundbüro. "Wir nehmen sorgfältig eine Fundanzeige auf, und nicht selten ruft schon bald danach ein Bürger bei uns an, der genau diese Sache vermisst", so Guido Krosta. Ansonsten fahren die Beamten werktäglich zum Fundbüro im Rathausplatz-Bürgeramt, um dort die gesammelten Fundsachen abzugeben.
Nicht anders ist es in Bad Pyrmont, wobei die Beamten des Bürgerservice in manchen Fällen auch von sich aus Kontakt zur Polizei aufnehmen. "Wenn Auto- oder Sicherheitsschlüssel bei uns anlanden, telefonieren wir sofort mit den Kollegen der Polizei", sagt Mitarbeiter Wolfgang Mergel. "Manchmal hat sich da bereits ein Mensch in Panik gemeldet und wir freuen uns, wenn wir schnell helfen konnten." Da sich aber Schlüssel nicht leicht einem Besitzer zuordnen lassen - anders als Handys oder Portemonnaies mit Besitzerdaten - besteht eine der Aufgaben der Fundbüro-Angestellten darin, die Schlüssel nach sechsmonatiger Verwahrung zu vernichten.
Das Ehepaar Kühn nun ist inzwischen geneigt, an die "Borgmännchen" zu glauben und darauf zu hoffen, dass der Heilige Antonius diese kleinen heimlichen Hausmitbewohner möglichst schnell dazu bringt, die möglicherweise ausgeborgten Schlüssel gefälligst wo auch immer, jedenfalls gut sichtbar, zurückzulegen. Von den "Borgmännchen" erzählt die Engländerin Mary Norton in einem alten Kinderbuch und erfand damit durchaus gutmütige kleine Gesellen, deren Anwesenheit und vorübergehende Benutzung von Haushaltsdingen erklärt, warum verlorengegangene Dinge manchmal an überraschenden Ort wieder auftauchen.
Horst Weber vom Schlüsseldienst, er bringt verlegte Schlüssel zwar nicht zurück, aber er kann neue Schlüssel anfertigen. Gemütlich sitzt er in seinem Ladengeschäft in der Rintelner Ritterstraße und tröstet so manche seiner älteren Kunden, wenn diese meinen, der Schüsselverlust sei bereits einer Altersverwirrtheit geschuldet. "Ich habe ziemlich durchmischt mit Menschen zwischen 16 und 80 zu tun - jeder verliert Schlüssel, zu meinem Glück, ja...", sagt er. "Dass ich auch den Psychologen spiele, gehört zum Service dazu."
Die für Schlüsselverlierer oder -verleger besonders dramatischen Fälle sind ja diejenigen, wo man hilflos vor der Haustür steht und nicht mehr hineinkommt. Dann verlässt Horst Weber seinen kleinen Geschäftsraum und macht sich, zu welcher Uhrzeit auch immer, auf den Weg zu verschlossenen Türen, vor denen Menschen auf ihn warten, die manchmal ganz aufgelöst sind. "Sie haben Angst, dass es schrecklich viel kosten wird, die Tür zu öffnen", sagt er. "Oder dass ich gleich die ganze Tür zerstören werde." Dabei nimmt er gerade mal 65 Euro für einen schnellen Eingriff, um alles wieder gut zu machen. "Den Schlüssel, wenn er denn verloren ist, den aber kann ich nicht einfach herbeizaubern."
So bleibt also in vielen Fällen weiterhin das Rätsel bestehen, ob sich ein Schlüsselbund einfach in Luft auflösen kann. Michael und Brigitte Kühn sind fast geneigt, diese Möglichkeit anzunehmen. Zumindest haben sie sich in ihr Schicksal ergeben. Mit Ersatzschlüsseln ausgerüstet machen sie sich auf den Weg in die Nachbarstadt Hameln.
Sie könnten im Baumarkt einen Metalldetektor einkaufen, in der Hoffnung, damit die Schüssel doch noch irgendwo auf dem Grundstück rund ums Haus aufzuspüren. Sie könnten sich einen "BringMeBack"-Schlüsselanhänger besorgen, der mit einem speziellen Code versehen ist und einen Finder darauf hinweist, wie Schlüssel und Besitzer mit Hilfe entsprechender Firmen wieder zusammenkommen. Auch der Tipp von Horst Weber, die Schlüssel künftig an einem Band um den Hals zu tragen, käme vielleicht in Frage. Aber nein: Die beiden kaufen einfach ein besonders hübsches neues Schlüsseletui. Ein kleiner Trost für ziemlich hektische Tage.
Von Cornelia Kurth

Schamgefühl


Das Gefühl der Scham, der tiefen Beschämung durch Handlungen, die man am liebsten für immer unter den Tisch kehren oder zumindest niemals an die Öffentlichkeit gelangen lassen möchte - jeder kennt das, nicht wahr? "Scham, das ist eines der ganz wichtigen Gefühle, die dazu dienen, uns zu sozialen Wesen zu formen", so sagt es die Rintelner Theologin Karin Gerhardt. "Empfänden wir keine Scham, wir würden uns für immer wie unmündige Kinder verhalten." Manchmal sind Schamgefühle zutiefst berechtigt. Manchmal scheinen sie nur ein Tick zu sein. Manchmal wird die Scham durch die Nachsicht des Gegenübers getilgt. Hier folgen drei Beschämungsgeschichten, zwei Geständnisse dabei, keine Geschichten von Untaten, einfach Alltag.

Claudia, wenn du das hier liest, wirst du entweder lachen oder richtig böse werden. Weißt Du noch, wie Du mir einst ein schönes Holzbett ausgeliehen hast, auf unbestimmte Zeit, sagtest Du, vielleicht für immer. Es war ein höchst patentes Bett, dessen Rahmen man ganz einfach mit speziell geformten Holzstiften - du nanntest sie "Pinöpel" - zusammenstecken konnte. Jahrelang nutze ich dieses Bett, bis du es doch zurückverlangtest und dann feststelltest, dass einer der vier Pinöpel fehlte. "Das war schon so als ich es kriegte", sagte ich. "Erinnerst du dich nicht? Du hast mir doch selbst erklärt, dass man das Bett auch prima mit nur drei Pinöpeln benutzen kann, was ja auch bewiesen wurde, es gab ja nie mehr als diese drei, die vierte Ecke hält trotzdem alles aus." Du schütteltest den Kopf und verlangtest im Ernst, ich solle beim Tischler einen neuen Holzstift anfertigen lassen, das Bett sei was Besonderes, ein normaler Pflock würde in die Pinöpel-Öffnung nicht hineinpassen. Je entschiedener du darauf bestandest, das Bett in dem Zustand zurückzubekommen, in dem Du es mir geliehen hattest, desto empörter wurde ich angesichts der Gewissheit, ja genau das zu tun. Bis in einzelne Formulierungen hinein führte ich dir das Ausleihgespräch vor Augen und wie Du mich auf den fehlenden Pinöpel hingewiesen hattest. Irgendwann gabst du dich geschlagen, wir redeten nie mehr über die Sache. Ein paar Wochen später räumte ich das Zimmer, in dem das ausgeliehene Bett gestanden hatte, besonders sorgfältig auf und fand, fast unsichtbar an die Fußbodenleiste geklemmt, Pinöpel Nummer vier. Wie konnte das sein? Ich hatte ihn doch nie besessen? So tief ging meine Beschämtheit, dass ich geneigt war anzunehmen, du hättest dich bei mir eingeschlichen und den vierten Pinöpel bei mir versteckt. Unmöglichkeit konnte ich zugeben, dass alles, was ich zu meiner Verteidigung gesagt hatte, überhaupt nicht stimmte, unmöglich konntest Du den Pinöpel zurückerhalten und damit zugleich erfahren, wie ich im Brustton der ehrlichen Überzeugung ein ganzes Gespräch erfunden hatte. Dass das Tischlerbett auch nur mit drei Pflöcken zusammen hielt, stand ja nicht in Frage. Dir den Pinöpel zu geben und damit meine Schande zu offenbaren, stand, fand ich, in gar keinem Verhältnis zu dem Nutzen, den du davon haben würdest. Ich habe, Claudia, das kunstvoll geschnitzte Stück damals einfach weggeworfen, um dem peinlichen Geständnis zu entgehen. Jetzt ist es raus! Wirst du, nach all den Jahren, lachen? Oder böse sein?
(Cornelia, 54, Rinteln)


Die Eltern meines Freundes feierten Silberhochzeit und hatten dafür ein großes kaltes Buffet bestellt, unter dessen Köstlichkeiten drei orange leuchtende Hummer hervorstachen, drei Hummer für weit über 50 Gäste. Ich war ja nur so ein Mitläufer-Gast und hatte bestimmt nicht das Recht, eines dieser exklusiven Exemplare für mich zu beanspruchen, aber als nach einer Stunde immer noch niemand zugegriffen hatte, fragte ich die Mutter meines Freundes, ob ich mir einen Hummer nehmen könnte. Ja, ich durfte, und sie öffnete für mich die Schalen, legte mir das Fleisch auf den Teller und erfreute sich daran, wie begeistert ich war von dieser mir bis dahin unbekannt gewesenen Köstlichkeit. Ich war so hingerissen von dem zarten, süßlichen Geschmack des Hummerfleisches, dass ich von da an um das Buffet herumstrich wie eine hungrige Katze, die ihr Begehren zu verheimlichen sucht, um nicht vertrieben zu werden. Ich wollte den Hummer, konnte ihn ja aber unmöglich vor aller Augen an mich nehmen. In einem unbeobachteten Moment schlug ich zu, schnappte den zweiten Hummer, schlich mich mit meiner Beute aus dem Zimmer und ging in den stillen Keller, wo ich einen Hammer fand, um die Schalen aufzuschlagen. Gierig verschlang ich das Fleisch im hintersten Kellerwinkel. Es schmeckte so gut, so gut! Doch gleichzeitig klopfte mein Herz, aus Angst erwischt zu werden, und aufgerüttelt von der Erkenntnis meiner abgrundtiefen Schwäche. Ich kam mir vor wie eine Drogensüchtige, die sich heimlich die Spritze in die Adern jagt. Die zersplitterten Hummerschalen versteckte ich ganz unten im Küchenmülleimer, bevor ich mich wieder unter die Gäste mischte. Sehr wohl bemerkte ich, dass der dritte Hummer immer noch auf dem Buffet lag und dort - vermutlich, weil niemand die Unhöflichkeit zeigen wollte, nach dieser Rarität zu greifen - auch liegen blieb, bis die Party zu Ende war und nur noch die Familie zusammen saß. "Da ist ja noch ein letzter Hummer, willst Du ihn nicht nehmen?", fragte mich die Mutter meines Freundes. Nun - ich sagte nicht Nein. Das letzte bisschen Ehre rette ich damit, dass ich der Mutter die Hälfte des Fleisches herüberreichte. Schweren Herzens, aber immerhin. Das Hummeressen bezahlte ich mit einer Beschämungserinnerung von jetzt so an die 25 Jahre.
Ulrike, 34, Rinteln

Es war ein Unglück, das aus einer, wenn auch etwas zweifelhaften, Geste der Zuneigung entstand, eigentlich. In den Semesterferien eines Abends allein zuhause bei meinen eher strengen Eltern, erlaubte ich mir, was nicht in ihrem Sinne gewesen wäre, eine Flasche Wein für mich allein zu öffnen, und, um diese besondere Stimmung zu feiern, nahm ich mir nicht irgendein Glas aus dem normalen Küchenschrank, sondern ich öffnete, durchaus mit feierlichem Gefühl, den "Gläserschrank", in dem viele uralte, mundgeblasene Gläser standen, die meine Eltern überaus hochschätzten und aus denen wir halberwachsenen Kinder zwar auch trinken durften, dann aber immer mit der Ermahnung, die wertvollen Stücke ganz besonders zu achten - ja, eigentlich war es immer eine Auszeichnung gewesen, in den Kreis derer aufgenommen zu werden, die nicht irgendein Ikeaglas, sondern eines dieser auf Streifzügen durch Antiquitätenläden eroberten, wunderschönen, ganz individuell geformten Gläser benutzen durften. Mein Vater holte dann jeden Einzelnen von uns vor den Schrank, damit wir uns ein Glas aussuchten - alle hatten ja verschiedene Formen. Nur zwei der Gläser waren ganz und gar tabu - das hohe Lieblingsglas meines Vaters und das sehr ansprechend halbhohe, runde Glas meiner Mutter, bei dem sie immer betonte, wie sehr sie es aufgrund seiner reizvollen Form liebe. Damals, als ich mir den Wein öffnete, sehr wohl in dem Bewusstsein, das es sich eigentlich nicht gehört, allein Wein zu trinken, da wählte ich unter den Gläsern im Gläserschrank das wunderschöne Lieblingsglas meiner Mutter. Ich liebte meine Mutter schon immer, ich wollte aus ihrem Glas trinken. Friedlich lag ich, die halbe Flasche Wein war schon ausgetrunken, lesend in meinem Bett und hatte das schöne Glas auf die Fensterbank gestellt, als ich es, beim Zuziehen des Vorhangs, mit einem Rutsch herunterschlug, und es zerbrach! Schrecklich! Ich sammelte die Scherben ein und vergrub sie im Garten. Ach, die Hoffnung, das Fehlen des Glas würde nicht bemerkt werden, ich wusste, wie vergeblich sie war. Ich log, als meine Mutter herumfragte, ob irgendwer wüsste, wo das geliebtes Glas, aus dem sie immer trank, abgeblieben war. Doch bei meinem nächsten Besuch zuhause, als sie aus einem anderen, beliebigen Glas trank und erwähnte, wie sehr sie das Lieblingsglas vermisse, da, unter vier Augen, gestand ich es doch. Und was sagte sie? "Das kann doch jedem mal passieren!" Kein Drama, keine Vorwürfe, nichts. "Meine liebe Mama", so denke ich oft, "das war eine Lektion fürs Leben." Ihretwegen bin ich in solchen Dingen der nachsichtigste Mensch, und fast nie muss sich jemand meinetwegen wegen dieser Art von Nachlässigkeit schämen.
(Sabine, 55, Hameln)


Von Cornelia Kurth

Doktortitel - umsonst und ohne Arbeit?

"Sie sind es leid einen Doktorvater für Ihre Promotion zu suchen und haben darüber hinaus auch keine Lust, drei oder mehr Jahre Ihres Lebens mit dem Schreiben einer Arbeit zu verbringen, die sich am Ende doch niemand ansieht? Dann lesen Sie hier weiter." So verlockend wirbt das Internetportal "titel-kaufen.de" für ein ganzes Dienstleistungspaket rund um den Erwerb eines Doktortitels, für den man weder studieren, noch eine Arbeit schreiben noch etwas anderes tun muss, als eine mehr oder weniger hohe Summe Geldes zu investieren. Mindestens ein Prozent aller Doktortitel in Deutschland werden mit Geld statt mit Geist erworben, meint Matthias Jaroch, Sprecher des Deutschen Hochschulverbandes. Könnte man da nicht einfach dabei sein?
Wer bei Google unter dem Stichwort "Promotionsberatung" nach einer Institution vor Ort, in den Landkreisen Schaumburg oder Hameln/ Pyrmont, auf die Suche geht, wird allerdings nicht fündig werden, auch nicht mit einer ganz plumpen Anfrage wie "Doktortitel kaufen". Das Geschäft mit den "geistlosen" Doktortiteln findet weitgehend übers Internet statt und meist ohne dass sich die beteiligten Seiten jemals von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Warum sollten sie auch? In den meisten Fällen handelt es sich um einen reinen Versandhandel, Bestellung und Bezahlung hier, Doktorurkunde da.
Legal kann das Tragen eines gekauften Doktors niemals sein. Einen echten Doktortitel vergeben in Deutschland ausschließlich Universitäten und mit ihnen gleichgestellte Hochschulen, nur sie haben ein Promotionsrecht für wissenschaftliche Arbeiten, die festgelegten Anforderungen entsprechen und eigenhändig angefertigt werden müssen. Weder mit einer "Promotionsberatung", die fast immer dasselbe meint, wie sich einen Ghostwriter zu besorgen, noch gar durch den Kauf des Titels über dubiose Organisationen erlangt man das Recht, den Titel tragen zu dürfen. Das gibt auch die Seite "titel-kaufen" offen zu, und schreibt dann: "Akademische Titel kann man in Deutschland nur durch ein Studium und der dazu notwendigen Disziplin, Ausdauer und Intelligenz erhalten. Sollten diese Fähigkeiten aber nicht gerade Ihr Steckenpferd sein, so müssen Sie schon etwas tricksen und sich in den illegalen Bereich begeben."
Spätestens bei dieser Formulierung sollten lesekundige Doktoranden-Anwärter merken, dass sie sich auf einen Satire-Portal befinden, eines, das inzwischen durchaus zu gewisser Berühmtheit gelangen konnte, sammelten doch die Begründer hunderte ernstgemeinter Anfragen ein, die sie dann auch ungescheut veröffentlichten, anonymisiert zwar, aber doch geeignet die Bewerber nach Eulenspiegel-Art bloßzustellen. "Kunden" aus allen Berufssparten beantworteten den Kontaktbogen, in dem sie begründen sollten, was sie zum illegalen Doktortitelerwerb bewegte. Da ist ein Facharzt, der seinen "Dr." braucht, um sich auf eine Chefarztstelle zu bewerben, ein Ingenieur, der für eine geplante Beratungstätigkeit aus Reputationsgründen gern Doktor der Geisteswissenschaften wäre oder ein Versicherungskaufmann mit Realschulabschluss, der Abitur und Doktortitel gleich im Doppelpack einkaufen wollte.
Dabei ist in den wenigstens Berufssparten zwingend ein Doktortitel nötig, um sich auf eine Stelle zu bewerben. 40 Prozent aller Naturwissenschaftler zwar benötigen auch außerhalb einer Tätigkeit in Forschung und Lehre diesen akademischen Titel, doch selbst Mediziner können ihren Beruf ausüben, ohne sich den Mühen einer Dissertation zu unterziehen. Wenn der Doktortitel trotzdem so begehrenswert erscheint, so deshalb, weil er nach Außen vermittelt, dass man in der Lage war, ein neues wissenschaftliches Forschungsthema in jahrelanger Arbeit so zu verfassen, dass man ein Hochschulgremium von dessen Qualität überzeugen konnte. Das bringt einem die Anerkennung des gesellschaftlichen Umfeldes und darüber hinaus tatsächlich finanzielle Vorteile im Beruf: Promovierte Bewerber erhalten im Durchschnitt erwiesenermaßen ein deutlich höheres Einstiegsgehalt als solche ohne Doktortitel.
Nun bestehen durchaus Möglichkeiten, einen Doktortitel auch ohne entsprechende Dissertation zu ergattern. Nicht in allen Ländern besteht wie in Deutschland ein gesetzlicher Titelschutz akademischer Grade, nicht überall sind Bezeichnungen wie "Hochschule", "Universität" oder "Fachhochschule" gesetzlich geschützt, und so gibt es Internet-Anbieter, die Beziehungen zu Universitäten in der Schweiz, den USA, in Afrika oder in Ländern der ehemaligen Sowjetunion vermitteln, wo man gegen Zahlung entsprechender "Gebühren" den Doktor für ein x-beliebiges Geschreibsel erhält. Da man einen solchen Titel in Deutschland aber nicht tragen und ihn weder in den Personalausweis noch auf Visitenkarten oder ins Telefonverzeichnis eintragen lassen darf, könnte man sich eine ebenso gut eine Promotionsurkunde am eigenen PC ausdrucken.
Etwas anders sieht es aus mit der "Ehrendoktor"-Würde. Einen Doktor "honoris causa", abgekürzt "h.c." verleihen Universitäten normalerweise aufgrund hervorragender Verdienste auf einem wissenschaftlichen Gebiet (und manchmal auch aus politischen Gründen, ohne dass eine direkte wissenschaftliche Leistung erkennbar wäre). Deutsche Universitäten gehen sehr sparsam mit der Verleihung einer solchen Würde um, auf die ein so Geehrter dann auch wirklich stolz sein kann. Die ehemalige Bundesforschungsministerin Annette Schavan etwa, die ihren regulären Doktortitel aufgrund eines erwiesenen Plagiats abgeben musste, sie wurde kürzlich von der Universität Lübeck für ihre Verdienste rund um die finanzielle Rettung der Hochschule mit dem "Dr. med. h.c." bedacht.
Eine Prüfung ist für die Ehrendoktorwürde nicht vorgesehen, handelt es sich dabei doch nicht um einen akademischen Titel, sondern eine "Ehrung für besondere Verdienste". Genau dieser Umstand macht es möglich, sich im Ausland ohne viele Umstände einen solchen Titel zu besorgen. Ein besonderer Verdienst kann schon darin bestehen, an eine sogenannte "Universität" eine kleine oder größere "Spende" zu überweisen. Und keine 50 Euro etwa kostet es, sich bei der amerikanischen "Miami Life Deve¬lop¬ment Church" (MLDC) einen "echten" Ehrendoktor ausstellen zu lassen (für den "Ehren-Professor" muss man an die 70 Euro aufbringen). Man wäre dann der Träger eines nicht akademischen sondern kirchlichen Ehrentitels.
Einen entscheidenden Wehrmutstropfen allerdings muss man beim Tragen eines solchen Titels hinnehmen. Selbst wenn eine Überprüfung ergeben sollte, dass Institutionen wie die MLCD berechtigt wären, Ehrendoktorwürden zu vergeben, so muss, wer ihn öffentlich tragen will, stets genau angeben, in welchem Fachgebiet, an welcher Institution und in welchem Land man ihn erworben hat. Das deutsche Gesetz schreibt vor, Titel nur so zu führen, dass eine Verwechslung mit akademischen Graden ausgeschlossen ist. Und ob man als "Beate Musterfrau, Dr. h.c. of Immortality, MLDC Insti¬tute (USA)" großen Eindruck schinden kann, es dürfte höchst fraglich sein, ganz abgesehen davon, dass man Gefahr läuft, wie ein Lübecker Zauberkünstler und Hunderte anderer "Würdenträger", eine Anzeige wegen Titelmissbrauchs zu erhalten.
Selbstverständlich begeht eine Straftat, wer sich von sogenannten "Promotionsberatern", sprich "Ghostwritern", eine Dissertation erstellen lässt. Dieser Weg hin zum Doktortitel ist außerdem wirklich kostspielig, müssen dabei ja nicht nur die Stellvertreter-Doktoranden bezahlt werden, sondern auch die Professoren, die bereit sind, bei einen solchen offensichtlichen Betrug mitzuspielen. Es existiert kein ordnungsmäßiges Promotionsverfahren, bei dem der Kandidat seinem Professor nicht persönlich bekannt ist und wo er nicht spätestens beim mündlichen Prüfungstermin, dem Rigorosum, einem Hochschulgremium Rede und Antwort zu stehen hat.
Die Satire-Seite "titel-kaufen.de" verweist fröhlich auf die Alternative, sich alle relevanten Unterlagen von der Einschreibung an einer Universität, den Exposes bis hin zur fertigen Arbeit von Experten fälschen zu lassen. "Kein Mensch außer Ihnen wird von dem Ghostwriting Wind bekommen - vertrauen Sie uns - Ihnen bleibt ohnehin keine Wahl, da Fleiß, Ausdauer und Fairness nicht gerade zu Ihren Tugenden gehören." Theoretisch ist das durchaus möglich. Praktisch aber kann man sich damit hohe Geldstrafen und bis zu einem Jahr Gefängnis einhandeln.




Von Cornelia Kurth

Demenz - unvermeidlich?

"Schubs mich in die Weser, sobald es soweit ist!" Das sagte ein etwa 50jähriger Mann zu seiner Frau, in der Pause einer Rintelner Veranstaltung zum Thema "Demenz". Die Umstehenden nickten bestätigend und äußerten sich ähnlich: nichts könne schlimmer sein, als im Alter völlig zu verblöden; man müsse es irgendwie schaffen, sich vorher das Leben zu nehmen; Alzheimer sei so schrecklich, dass es richtig schwer falle, länger darüber nachzudenken. Zuvor hatte ein Mann im Publikum gefragt, ob es Möglichkeiten gäbe, sich gegen Demenz-Erkrankungen zu schützen. "Nein!", hieß die Antwort von Dr. Wilmut Wolf, dem Vorsitzenden der Alzheimergesellschaft Hameln. Der mit Abstand größte Risikofaktor für eine Demenz sei das Alter. "Und alt werden, das wollen wir doch alle."
Wie seltsam dagegen, mit jemandem wie Ralf Ober zu sprechen, dem Leiter des Seniorenheimes vom Reichsbund Freier Schwestern in Rinteln, und mit der Pflegedienstleiterin Marina Heise. "Lieber Demenz als zum Beispiel ein Schlaganfall", sagt Ralf Ober. Und Martina Heise: "Wenn ich nun mal schwer erkranken muss im Alter, dann wähle ich die Demenz." In einem Umfeld, das sich auf diese Art der Erkrankung eingestellt habe, könne man als Mensch mit Demenz durchaus glücklich und zufrieden sein. "Ja, Orientierungsfähigkeit, Gedächtnis, Denkvermögen, das alles geht immer mehr verloren", so Ralf Ober. "Doch die Gefühle überleben bis zuletzt. Und dafür, dass es überwiegend gute Gefühle sind, kann man eine ganze Menge tun."
Fast könnte man meinen, die beiden machten mit solchen Aussagen Werbung für ihr Seniorenheim, das zum allergrößten Teil demenzerkrankte Bewohner beherbergt, nicht anders übrigens als fast alle anderen Seniorenheime auch: Je älter die Bevölkerung insgesamt wird, desto häufiger werden Krankheiten wie Alzheimer, von denen in Deutschland gegenwärtig etwa 1,4 Millionen Menschen betroffen sind. Jedes Jahr kommen, so gibt es die deutsche Alzheimergesellschaft bekannt, 300.000 Neuerkrankungen dazu. Fast 16 Prozent aller über 80-jährigen, über 40 Prozent der über 90-jährigen sind betroffen. Liegt es vielleicht daran, dass Fachleute wie Ralf Ober und Marina Heise lieber gut Wetter machen als Angst zu schüren?
Der Hamelner Dr. Wilmut Wolf, Internist im Ruhestand, der sich in seinem Berufsleben vornehmlich mit alten Patienten und deren besonderen Anliegen beschäftigte, er kann beides: Mit großer Nüchternheit über eine in der Tat schreckenerregende Krankheit referieren und zugleich dazu ermutigen, sich vor allem als Angehörige erkrankter Menschen umfassend über den Charakter der Demenz kundig zu machen. "Wer nicht weiß, dass es sich bei der Demenz um eine unwiderrufliche Erkrankung des Gehirns handelt, bei der Nervenzellen und die Verbindungen zwischen Nervenzellen zugrunde gehen, der läuft meistens in eine schlimme Falle, nämlich den Erkrankten verändern, gewissermaßen therapieren zu wollen, damit er sich wieder normal benehmen soll", sagt er. Das habe dann aufreibende, zur Verzweiflung treibende und völlig sinnlose Streitigkeiten zur Folge.
Deshalb zeigt er Angehörigen, die in die Demenzsprechstunde der Alzheimer-Gesellschaft Hameln-Pyrmont kommen, zu allererst Aufnahmen eines erkrankten Gehirns, auf denen deutlich zu sehen ist, dass es weitgehend zerstört ist. Vor allem Koordinations- und Gedächtnisfähigkeiten sind von dieser Zerstörung betroffen. "Wenn ein Erkrankter Lebensmittel im Kleiderschrank deponiert, oder einfach scheinbar unverschämt vom Teller seines Nachbarn im Restaurant nascht, oder zum zehnten Mal fragt, ob man Zucker zum Kaffee wünsche, dann nützt es nichts, ihn genervt auf diese Schwächen hinzuweisen oder gar, ihm böse Absicht, zumindest kränkende Gleichgültigkeit zu unterstellen", sagt er. "Die Realität eines Demenzkranken ist nicht mehr dieselbe wie die von gesunden Menschen. Und sie finden auch nicht mehr dahin zurück."
Dieses Wissen darum, dass es sich bei einer Demenz eher um die Folgen einer organischen Erkrankung handelt, denn um den Ausdruck eines individuellen Willens, dass man also nicht im Sinne einer gleichberechtigten Beziehung reagieren sollte, sondern im Bewusstsein, einem kranken Menschen gegenüberzustehen, ob das ein Trost ist? Wilmut Wolf immerhin bringt eine Reihe von Beispielen an, aus denen deutlich wird: Nur wer aus diesem Wissen heraus reagiert, hat eine Chance, etwas Gutes im Umgang mit erkrankten Menschen zu sehen. "Den Verwirrten auszuschimpfen, sich mit ihm zu streiten, ihm klarmachen zu wollen, dass er sich irrt, wird alles nur noch schlimmer machen", sagt er. "Menschen mit Demenz bewegen sich in einer Rätselwelt. Sie verstehen nicht, warum sie mit dem, was sie tun, ständig anecken. Was sie eigentlich suchen ist - Geborgenheit."
Das bestätigen auch Ralf Ober und Marina Heise. "Bis vor vielleicht 20 Jahren galt ein im Nachhinein geradezu katastrophales Konzept für den Umgang mit demenzkranken Menschen, das sogenannte 'Realitäts-Orientierungstraining'", so der Seniorenheimleiter. Wie verloren sich ein Kranker fühlen muss, der "nach Hause" will, und dann erklärt man ihm immer wieder neu, er habe kein Zuhause mehr, seine Verwandten seien alle tot oder wollten ihn nun mal nicht sehen, das ergäbe ein sich geradezu unendlich wiederholendes Leid, so, als würde jemand täglich zum ersten Mal erfahren, dass er ganz allein dastehe in der Welt. "Dabei ist das 'Zuhause', nachdem die alten Menschen sich sehnen, sowieso meistens das längst vergangene Zuhause aus der Kindheit, eine Welt, in der es, zumindest in der Erinnerung, irgendwie stimmig und richtig zuging. Worum es geht: Ein derartiges Gefühl des Zuhauseseins zu vermitteln."
Das Handwerkszeug dazu kann auch jeder Angehörige bis zum gewissen Grad erlernen. "Validation" heißt hier das Zauberwort. Ursprünglich bedeutet dieser Begriff, die Gültigkeit einer Aussage zu bestätigen, sie für "wert", also richtig und angemessen zu halten. Im Rahmen der Pflege von demenzkranken Menschen könnte man ihn mit dem Begriff "Wertschätzung" übersetzen, Wertschätzung dessen, was der Kranke zum Ausdruck bringt, verbunden mit dem Versuch, sich in seine Gefühlslage einzufühlen und auf diese Gefühle einzugehen. "Es geht darum, die Gefühle, die hinter einer Handlung stehen, als real anzusehen, wertzuschätzen, zu bestätigen, dass man sie anerkennt", sagt Martina Heise. "Das ist fast die einzige Ebene, auf der man dem kranken Gegenüber das Gefühl des Verstandenwerdens geben kann."
Deshalb auch nehme die Biographiearbeit in der Pflege eine so wichtige Stellung ein. "Je mehr wir vom Leben eines Kranken wissen, desto besser können wir auf ihn eingehen, also auf die Kindheit zu sprechen kommen, die Eltern, den Ehemann und wie ein Paar sich kennenlernte. Es ist dann leichter, auf Gefühle wie Wut, Traurigkeit oder Sehnsucht zu reagieren, nämlich indem man die Realität der Gefühlswert bestätigt und dann zu etwas Positivem aus der Vergangenheit überlenkt", erklärt sie. Das Prinzip der "Validation" sei so erfolgreich, dass sie sich über die Demenzerkrankten selbst kaum Sorgen mache. "Viel schwerer ist es für die Angehörigen, diese Art der Wertschätzung durchzuhalten."
So sieht es auch Dr. Wilmut Wolf. "Viele meinen zunächst, es sei geradezu verlogen, den dementen Menschen nicht in dem, was er sagt, ernst zu nehmen", meint er. "Manche reiben sich lieber in ewigem Streit auf, statt zu akzeptieren, dass man nicht mehr derselben Persönlichkeit wie immer gegenübersteht." Sein Rat für Angehörige: Hilfe suchen!
Drei Möglichkeiten liegen da nahe: Sich einer Selbsthilfegruppe anzuschließen und im Austausch mit anderen nicht nur hilfreiche Tipps zu erhalten, sondern vor allem zu erfahren, dass auch andere den manchmal ziemlich verrückten Alltag mit einem Demenzkranken kennen und durchstehen; einen der vielen ehrenamtlichen, speziell geschulten Seniorenbegleiter zu engagieren, und sich damit eine Aus- und Erholungszeit zu gestatten; und schließlich die Unterbringung in einem Heim einzuleiten. "Das ist weniger schlimm, als es sich zunächst anhört", sagt er. "Zuhause hat eben bei den meisten kaum noch etwas mit Geographie zu tun, sondern mit einer Umwelt, in der man nicht ständig an Grenzen stößt."
Auch Ralf Ober und Pflegedienstleiterin Marina Heise halten einen guten Rat parat für alle, die Angst davor haben, selbst im Alter an Demenz zu erkranken. "Ich lege schon jetzt ein Biographiebuch an, als Hilfe für diejenigen, die mich einmal betreuen werden", sagt Marina Heise. Und Ralf Ober: "Niemand weiß, ob er selbst mal Alzheimer bekommt. Also sage ich: Lebe gut und so, dass wenigstens die Jahre vor der Krankheit schön waren."
Von Cornelia Kurth

Das Jagen muss eine Herausforderung sein

Ein Reh äst still auf der Waldlichtung. Ab und zu hebt es den Kopf, das wunderschöne, zierliche Tier, dann vergnügt es sich weiter an Kräutern und Gras. Alles scheint so friedlich zu sein, bis plötzlich ein Schuss fällt und das Reh tödlich getroffen zusammenbricht. Tierfreunden kommt so ein Szenario einfach nur schrecklich vor: Hier das arglose Tier, dort der Jäger auf dem Hochstand, der es unvermittelt aus dem Leben reißt. "Jeder anständige Jäger befragt sein Gewissen, ob der Abschuss, den er vorhat, wirklich nötig ist", sagt Tiermediziner Professor Heinrich Stahlhut-Klipp aus Niedernwöhren, ehemaliger Kreisjägermeister Schaumburgs. "Aber ein bisschen grausam ist es immer."
Trotzdem sollte man auch als mitfühlender Mensch nicht vorschnell urteilen: Das Bundesjagdgesetz fordert eine Tierschutzethik ein, von der in diesem Umfang beim Schlachtvieh in der Massentierhaltung kaum die Rede sein kann. "Wildfleisch von in Freiheit lebenden Tieren ist gesund und schmeckt hervorragend. Dennoch spielt es in unserer Ernährung keine große Rolle. Wir jagen ja heutzutage nicht mehr, um uns überlebenswichtige Nahrung zu beschaffen, sondern eher aus Umwelt-, Tier- und Landschaftsschutzgründen", so Heinrich Stahlhut-Klipp. Ob man es sich deshalb leisten kann, Jagdgesetze zu formulieren, die in einem erstaunlichen Maße das Wohl der Tiere des Waldes im Auge haben?
So wäre es doch sehr praktisch, wenn man das Wild an Futterstellen locken und es dort ohne große Mühe abschießen dürfte, und der Jagderfolg wäre auch garantiert, dürfte man externe Lichtquellen benutzen, um die Tiere dadurch anzulocken und vor die Flinte zu bekommen. Noch in der ehemaligen DDR standen für ausgewählte Personen riesige, eingezäunte Jagdgehege zur Verfügung, in denen der Wildbestand künstlich hochgehalten wurde, damit prächtige Gesellschaftsjagden abgehalten werden konnten, bei denen auch noch der ungeübteste Schütze zum erfolgreichen Jäger wurde. "Sowas wäre im Rahmen unserer Jagdgesetze vollkommen absurd", sagt Heinrich Stahlhut-Klipp. "Die Zeiten, als man das Jagen wie früher an den großen Fürstenhäusern als reinen Sport betreiben durfte, die sind zum Glück sowieso vorbei."
Er selbst, inzwischen 76 Jahre alt, nahm als Junge noch teil an den bäuerlichen Treibjagden auf Hasen und Kaninchen, wo die Kinder des Dorfes als Treiber eingesetzt wurden und zusammen mit Bauern und Jägern aus den gemeinschaftlichen Jagdbezirken ein großes Kesseltreiben veranstalteten. Die Kinder und Jugendlichen bekamen natürlich kein Gewehr in die Hand, dafür aber einen Stock, mit dem sie auf die Büsche schlugen, dabei "Has! Has!" ausrufend, damit die Hoppeltiere dann in Richtung der Schützen fliehen würden. Solche "Vorsteh-" und auch die "Kesseltreiben" lassen den einzelnen Hasen und Kaninchen kaum eine Chance zu entkommen und sie trugen dazu bei, den Bestand der Tiere erheblich zu vermindern.
Früher allerdings ging es dabei nicht nur um einen Hasenbraten, sondern auch darum, Wildschäden an jungen Bäumen, auf den Feldern und in den Gärten zu vermeiden. Inzwischen würde bei einer Treibjagd nicht mehr viel herauskommen. "Die Struktur in der Feldmark hat sich total geändert", erklärt der ehemalige Kreisjägermeister. "Feldhasen brauchen eine gegliederte Landschaft, nicht die riesigen Raps- und Maisfelder, wo sie keine geeignete Nahrung finden." Wirklich gefährdet sei das Überleben der Feldhasen zwar nicht, aber es gäbe eigentlich "keinen vernünftigen Grund" mehr, diese Tiere zu massenhaft zu bejagen, ganz abgesehen davon, dass man auf keinen Fall mehr Kinder bei einer Treibjagd zulassen würde. "Ich habe die Treibjagden sowieso nie gemocht", erzählt Heinrich Stahlhut-Klipp. "Schon als Kind hatte ich das Gefühl, es geht dabei nicht gerecht zu und ich fragte mich: 'Warum machen wir das?'"
Da erging es ihm nicht viel anders als dem Schriftsteller Ernst Wiechert (1887-1950), der in seinem autobiographischen Roman "Wälder und Menschen" davon erzählt, wie er in seiner Jugend als Sohn eines Förster, durch den Wald streifte, um zu jagen, was ihm vor die Flinte kam, erfüllt zunächst vom Stolz über jeden guten Schuss, bis sich wie von selbst eine Änderung in seinem Denken einstellte, ein Mitgefühl, das eigentlich schon in seiner Kindheit angelegt war, wo ihn ein Buch zutiefst beeindruckte, in dem er las, "wie dort ein Jäger einen Falken schießt, und der tote Vogel, herabgeschleudert aus seinem klagenden Schrei, stürzt in das Moos, und um diesen Sturz herum ist eine unsägliche Schwermut hoffnungsloser Liebe, trauriger Landschaft und unendlicher Sehnsucht."
Natürlich muss gejagt werden, um einen Wildbestand im Gleichgewicht zu halten, der, gäbe es keine menschlichen Jäger, von Raubtieren wie Wolf, Luchs oder Bären reguliert würde. Doch gilt für die Jagd das Tierschutzgesetz, nachdem kein Tier ohne vernünftigem Grund getötet werden darf. "Und die reine Freude an der Jagd ist längst kein 'vernünftiger Grund' mehr", so Heinrich Stahlhut-Klipp. "Das Ziel muss immer die Beute sein und der Anspruch, diese dann auch zu verwerten." Die Grundlagen für das heute gültige Bundesjagdgesetz wurden bereits im Jahr 1848 geschaffen, als die Frankfurter Nationalversammlung einen Grundrechtskatalog formulierte in dem es auch darum ging, dass nicht mehr allgemein die Fürsten, sondern die jeweiligen Grundbesitzer das Recht zum Jagen besitzen sollten. 1929 dann wurde mit der Preußischen Tier- und Pflanzenschutzverordnung endgültig das festgeschrieben, was man unter dem Stichwort "Waidgerechtigkeit" zusammenfassen kann: Einheitliche Jagdgesetze, die auch international als vorbildlich gelten.
"Waidgerechtigkeit, ja, das ist ein großes Wort, und ich staune immer noch, dass man diesen nicht einfach zu fassen Moralbegriff tatsächlich in ein Gesetz aufgenommen hat", meint Heinrich Stahlhut-Klipp. "Waidgerecht zu handeln, bedeutet, ein 'anständiger" Jäger zu sein, und natürlich wandelt sich die Auffassung dessen, was 'Anstand' bedeutet, mit der Zeit." Trotzdem kann man die Maxime der jägerlichen "Anständigkeit" durchaus auf den Punkt bringen: Dem Tier kein Leid zuzufügen. "Das klingt für den Laien vielleicht etwas eigenartiges", sagt er. "Schließlich schießen und töten wir ja." Doch habe der Anspruch, ein Tier nicht leiden zu lassen, eine ganze Reihe Verhaltensvorschriften zur Konsequenz, die zusammen tatsächlich eine "Ethik der Jagd" ergeben.
An erster Stelle mag da stehen, dass man nur schießen soll, wenn man sich sicher ist, auch gut treffen zu können. "Ein 'mal sehen, ob es vielleicht klappt' kommt nicht in Frage!", so Helmut Stahlhut-Klipp. Dass man ein Tier dann vielleicht trotzdem nur verletzt, kann vorkommen, und auch dafür gibt es klare Regeln. Ohne ausgebildeten Jagdhund darf man sich beim Anstand auf Wildscheine, Rehe oder Rotwild gar nicht erst begeben, es sei denn, in Ausnahmefällen, man könnte sofort einen Schweißhund-Besitzer zur Hilfe rufen, mit dessen Unterstützung man sich auf die Suche nach dem verwundeten Tier macht, so lange, bis man es gefunden hat.
Dabei ist es, trotz der eigentlich praktischen breiten Streuung, auch streng verboten, mit Schrottmunition auf das Rehwild zu schießen. Eigentlich soll jeder Schuss gleich tödlich sein, und damit das möglichst gut gewährleistet ist, gehen noch unerfahrene Jäger nicht allein auf die Jagd, ist der Zustand der Waffe regelmäßig zu prüfen, darf nicht mit Pistolen, Revolvern oder aus dem fahrenden Auto geschossen werden, und Fallen, gar Gift kommen eh nicht in Frage. Auf der anderen Seite darf die Jagd, so treffsicher es dank moderner Technik dabei zugehen könnte, niemals zum reinen Schießen auf lebendige Ziele verkommen. Auch muss jedes Tier vor dem Schuss "angesprochen" werden, das heißt, der Jäger muss beurteilt haben, ob es tatsächlich ein würdiges Ziel ist. Ist außerhalb der Schonzeit eine Ricke mit Kitz unterwegs, hat man immer zuerst das Kitz zu erledigen und dann das Muttertier.
"Und schließlich", so Helmut Stahlhut-Klipp, "für einen anständigen Jäger muss das Jagen eine Herausforderung sein! Das Anpirschen gegen den Wind, das Überlisten, all das gehört dazu. Sonst könnten wir ja gleich in ein Gatter gehen und Schießbuden-Schießen abhalten." Sollte einem Jäger mal ein Fehler unterlaufen sein, etwa, dass er ein verwundetes Tier nicht finden konnte, oder dass er ein zu junges Wild erlegte, dann muss er es vor seinen Kollegen eingestehen. "Alles andere wäre unter der Würde."