Dienstag, 1. Februar 2011

Sportstammtisch Rinteln - die wirklich "Alten Herren"

Sportstammtisch Rinteln - die wirklich "Alten Herren"

Von Cornelia Kurth

Was für eine vergnügte Runde alter Herren, die sich da im "Stadt Kassel" versammelt. Zwölf Männer um die 75, einige sogar weit über 80 Jahre alt, die so vertraut miteinander scherzen, als seien sie Brüder aus einer Großfamilie. Und sind sie es nicht auch? Fußballbrüder - ja! Jeder von ihnen ist engverbunden mit dem SC Rinteln, die meisten seit ihrer frühen Jugend, kurz nach Kriegsende: Spieler, Schiedsrichter und natürlich Gerd Witte, einstiger Wirt des "Goldenen Sterns", der langjährigen Vereinskneipe des SC. Seit 25 Jahren treffen sie sich zum Seniorenstammtisch, heute ist es das 300. Mal. Und natürlich haben sie allerlei zu erzählen vom Fußball in Rinteln, wie er sich nach dem Stillstand im Krieg und nach den Hochwassern, die den Platz am Steinanger verwüstet hatten, wieder zu einem Spiel entwickelte, das die Jungs der Stadt in seinen Bann zog.

Dabei war das Fußballspiel bei vielen Eltern ganz und gar nicht beliebt. Wie oft gingen die kostbaren Hosen dabei kaputt, und was noch schlimmer war: Die Schuhe! Echte Fußballschuhe hatte sowieso fast niemand. Woher auch sollte man sie bekommen in der Nachkriegszeit. Es konnte sich ja schon glücklich schätzen, wer überhaupt ein paar solide Schuhe besaß. "Ich hatte eines, ein einziges Paar", erzählt Rolf Wedemeyer (75). "Und weil das so wertvoll war, durfte ich nicht mitspielen. Meine Mutter kontrollierte genau, ob sich irgendein Fußballabdruck darauf finden ließ. Wenn ja, bekam ich richtig Ärger!"

Herbert Eckel, genannt "der Schöne", um ihn von seinem Bruder Günter zu unterscheiden, der "Eckel der Jüngere" hieß, er ließ sich die beim Fußball ramponierten Schuhe heimlich von seinem Onkel reparieren. Der schlug kleine Holzpflöcke ein, wenn sich die Sohle mal wieder gelöst hatte. "Aber irgendwann sagte er: 'Neffe - es passt kein neues Loch mehr rein!", so Herbert Eckel. "Tja, da gab es dann eine Zwangspause." Rolf Wedemeyer stand überhaupt nur am Spielfeldrand und sah sehnsüchtig zu. "Lern lieber Klavier!", meinte seine Mutter. "Da hast du später was davon!" Das hatte er auch. Neben der Arbeit in seinem Getränkelager spielte er jahrzehntelang auf den Festen in der Umgebung als Musiker auf.

Für Heinz Hesse, damals Schiedsrichter, danach 17 Jahre lang Obmann im Spielausschuss und dann tätig im Obersten Verbandssportgericht, war die Sache mit den Schuhen nicht so das Problem. Er musste die Autorität aufbringen, die jungen, übermütigen Spieler zur Raison zu rufen. "Wieso denn, was ist denn?" heißt es lachend in der Stammtisch-Runde. "Kein Einziger von uns hat je eine Rote Karte bekommen! Und auch keine Gelbe!" Na ja - wie hätte das auch sein sollen?

Niemand, der vor 1970 Fußball spielte, fing sich jemals eine Rote oder Gelbe Karte ein. Diese praktische und unmissverständliche Art der Verwarnung gibt es erst, seit bei der WM 1966 das größte Chaos entstand, weil ein Spieler so tat, als habe er den Platzverweis des Schiedsrichters nicht gehört und einfach auf dem Spielfeld blieb. Vor der anschließenden Neuregelung sprachen die Schiedsrichter ihre Verwarnungen immer nur mündlich aus. "Im schlimmsten Fall schrie das halbe Publikum: "Ab nach Hause!'", sagt Heinz Hesse.

Wurde ein Spieler so verletzt, dass er nicht mehr mitspielen konnte, war das ein doppeltes Ärgernis für die Mannschaft, denn es durfte kein Ersatz eingewechselt werden. "Wir waren manchmal nur noch neun Spieler auf dem Platz", erzählt Herbert Eckel. "Wenn eine Seite nur noch sieben Spieler hatte, wurde das Spiel abgebrochen." An so eine Situation kann sich aber keiner erinnern. "Wir haben alles in allem fair gespielt", betonen sie. "Schließlich sahen wir alle uns ja ständig wieder!"

Nach jedem Spiel auf dem Platz am Steinanger liefen sie in ihren verschwitzten Trikots und mit dem wertvollen Fußball unterm Arm durch den Blumenwall zurück in die Stadt, zum Marktplatz, in den "Goldenen Stern" (jetzt die "Marktwirtschaft"), wo Vereinswirt Gert Witte die Rintelner und die Gegnermannschaft empfing. Während sie sich im Saal umziehen und vor den dort aufgestellten Waschschüsseln waschen konnten, tischte der Wirt die leckeren Mettbrötchen aus der Schlachterei Lehmeier auf. Die hatte Karl-Heinz Lehmeier, der bis zu seinem Tod ebenfalls zum Stammtisch gehörte, immer großzügig gespendet, mit einer der vielen Gründe, warum er später zum Ehrenvorsitzenden ernannt und der "Karl-Heinz Lehmeier"-Preis gestiftet wurde.

Die Vereinskneipe war lange gleichzeitig auch das Vereinsbüro, mit dem Wirt als Organisator, immer die Zigarette in der einen, den Telefonhörer in der anderen Hand. Er ist rund zehn Jahre älter als die anderen Stammtischler, kam erst 1948 Jahre aus der englischen Kriegsgefangenschaft zurück und trat dann gleich in die 1. Herrenmannschaft ein. "Na - Fußball haben wir da auch gespielt, und wie! Und wahrscheinlichen mit einem besseren Ball als Leute hier, von den Engländern gestiftet, immerhin." Klar ist, dass die ersten Nachkriegsfußbälle nichts anderes als aus Stofffetzen zusammengebastelte Filzkugeln waren.

Die Geschichten schwirren herum im "Stadt Kassel" - und je mehr Bier und Schnaps das Geburtstagskind Albert Wippermann (78) ausgibt, desto mehr necken sich die Stammtischbrüder. "So machen wir es immer", sagt Albert Wippermann, der fast drei Jahrzehnte als Kreiskassierer und als Kassenwart für den SC Rinteln agierte, nachdem er zuvor als gefährlicher Gegenspieler dem TuS Engern angehört hatte (die besseren Mettbrötchen in Rinteln hätten es ihm damals angetan, witzeln die anderen, deshalb der Vereins-Wechsel). "Wer Geburtstag hat, gibt ein Essen aus und Getränke so lange, bis er dem Wirt das Zeichen 'Daumen runter' gibt. Von da an zahlt jeder für sich selbst." Noch lächelt er vergnügt zu Ernst Brand herüber, dem "Stadt Kassel"-Wirt. Der sitzt auch mit am Stammtisch, aus Solidarität, denn im Rintelner Verein hat er nie mitgespielt (aber in Grupenhagen). "Wäre auch gar nicht gegangen - so große Fußballschuhe für seine Größe 48 hätten wir nicht auftreiben können", sagt Horst Ladage neben ihm.

Horst Ladage (74) - "ein guter Mann, ein überragender Mann", wie Rolf Wedemeyer unter Zustimmung aller betont - er spielte bereits mit 17 Jahren in Rintelns erster Herrenmannschaft, schoss zahllose Tore und ließ sich in seiner 20jährigen aktiven Zeit treu niemals von anderen Vereinen abwerben. "Nun ja - damals war es noch eine Ehre, für Rot-Weiß zu spielen", meint er grinsend. "Heutzutage allerdings...". Ja - über den aktuellen Zustand des SCR machen sich alle gerne lustig. "Oder sagen wir so", ruft Rolf Wedemeyer dazwischen: "Früher haben wir uns immer über die Spiele des SC unterhalten - jetzt reden wir nur noch allgemein über die Bundesliga..."

Im Übrigens ist gar nicht immer nur Fußball das Thema in der Stammtischrunde. Seit 1992 gibt es eine eigene Radfahrertruppe, die sich einmal im Jahr aufs Rad schwingt und lange Touren durch Deutschland macht, am liebsten entlang der Flüsse. Klaus Ide, der Jüngste am Stammtisch, tüftelt diese Radtouren aus und ist liebenswürdigerweise darauf bedacht, sie nicht allzu hoch in die Berge zu führen. In diesem Jahr, wenn der SCR seinen 100. Geburtstag feiert, machen sich die Radfahrer zum 20. Mal auf die Reise.

Fußball spielen sie alle ja schon lange nicht mehr. Herbert Eckel hörte auf, als sein kriegsverletzter Vater ihn darum bat, an den Wochenenden auf seinen Taubenschlag aufzupassen. Der einbeinige Mann schaffte es nicht mehr, die Leiter zum Dach hochzusteigen. "Natürlich habe ich meinem Vater gehorcht, alles andere wäre undenkbar gewesen", meint Eckel. "Aber mit den Vereinsspielen war es dann vorbei." Bei den anderen waren es entweder die Berufsausbildung, die zuviel Energie in Anspruch nahm, oder die Heirat, wie zum Beispiel bei Gert Witte. "Ja, du, Horst, du hast gut reden", ruft er zu Horst Ladage herüber, der so lange als Spieler dabei war. "Du bist ja auch noch Junggeselle!"

Vor 25 Jahren, als sich der Stammtisch anlässlich des 75. Vereinsjubiläums des SC Rinteln zusammenfand, kamen über 30 ehemalige Spieler. "Seitdem ging es nur noch bergab", sagt Rolf Wedemeyer. Obwohl alle zum 300. Stammtisch versammelten mindestens zehn Jahre jünger wirken, als sie es in Wirklichkeit sind, die Zeit schreitet voran. Krankheit, auch Tod dezimierte die brüderliche Runde, Neuzugänge, wie etwa derjenige von Ernst Brand, der eintrat, als sein Lokal zur Stammwirtschaft erwählt wurde, sind sehr selten. "Vielleicht sollten wir nicht mehr so viel trinken, dann werden wir alle hundert Jahre alt", gibt Albert Wippermann zu bedenken, der heute alles ausgibt. Den Daumen runter hält er trotzdem nicht.

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