Donnerstag, 7. August 2014

Von Cornelia Kurth

Verlieren und Wiederfinden

Selten wurde der Hausrat von Michael und Brigitte Kühn aus Rinteln so genau unter die Lupe genommen. Zwei Tage lang durchwanderte das ältere Ehepaar alle Räume, zog sämtliche Schubladen auf, beugt sich unter jedes Möbelstück und selbst Küchen- und Badezimmerschränke wurden durchsucht, alles in der Hoffnung, ein verlegtes Schlüsselbund mit Haus- und Autoschlüsseln wiederzufinden. Vergebliche Mühe - die Schlüssel bleiben verschwunden. Wo nur könnten sie sein? Wie lassen sie sich wiederfinden? Hatten da etwa die "Borgmännchen" ihre Finger im Spiel?

"Wir reden über nichts anderes mehr", sagt Michael Kühn. "Habe ich den Schlüssel vielleicht vor der Haustür verloren und jemand hat ihn eingesackt?" Inzwischen denkt er darüber nach, die Haustürschlösser auszutauschen und ein neues Schloss ins Auto einbauen zu lassen. "Unsinn!", sagt seine Frau. "Hier ist eine gute Wohngegend, man würde uns den Schlüssel ja wohl zurückgebracht haben, wenn Du ihn direkt vor dem Haus verloren hättest." Bei dem, was sie sagt, schwingt ein leicht vorwurfsvoller Ton mit. Schließlich war es ihres Mannes Zerstreutheit gewesen, wodurch sie nun beide darüber spekulieren müssen, ob demnächst wohl ihr Auto geraubt sein wird oder sie ungebetenen Besuch erhalten.
Ginge es nach dem Rat von Horst Weber, der in der Rintelner Ritterstraße einen kleinen Schlüsseldienst führt und seit fast 30 Jahren berufsbedingt mit manchmal richtig verzweifelten Menschen zu tun hat, dann gälte die Formel: "Dreimal neue Schlosszylinder, dreimal neue Sicherheit!" Böse Buben, so sagt er, könnten sehr wohl die Gelegenheit zu einem Einbruch nutzen und dann würden sie noch nicht mal Spuren für Polizei und Versicherung hinterlassen. Michael und Brigitte Kühn wissen das natürlich. Eigentlich. Sie sagen sich aber: "Die Diebe wären doch schon längst dagewesen", und drücken sich vor den Umständen eines vielfachen Schösseraustausches. Was sie nicht loslässt, weder beim Frühstück, noch beim Abendessen noch wenn einer von ihnen nachts aufwacht: Die Schlüssel müssen doch irgendwo sein!
Die beiden haben durchaus Regeln einer disziplinierten Suche befolgt. Nach einer ersten eher hektischen Herumsucherei setzten sie sich hin und rekonstruierten, wann Michael Kühn das Schlüsselbund zum letzten Mal in der Hand hielt. Als er am Tag zuvor mit dem Auto aus der Stadt zurückgekommen war, hatte er die Tür aufgeschlossen, also musste das vermisste Ding doch innerhalb der Wohnung zu finden sein. Doch weder in der dafür vorgesehenen Schublade, noch auf dem Schreibtisch im Flur, weder in der Garderobe, in den Gummistiefeln unterhalb der dort aufgehängten Mäntel oder in den mitgebrachten Einkaufstaschen, weder auf dem Küchentisch, in der Speisekammer oder dem kleinen Gästebad war der Schlüsselbund zu entdecken.
Nachdem sie sogar das obere Stockwerk systematisch abgesucht hatten, Sofakissenritzen und Betten nicht ausgenommen, riefen sie ihre Haushaltshilfe an. Wenn man sich selbst schon ganz verrückt gemacht hat, ist es sinnvoll, einen unaufgeregten Dritten hinzuzuziehen. Es kommt vor, dass eine verlegte Sache, für die es normalerweise einen festen Platz gibt, ausnahmsweise schlicht am anderen Ende des Schreibtisches liegt - und man sieht sie dann nur mit unvoreingenommenem Blick. Ein Helfer außerdem kann dafür sorgen, dass man mit neuem Mut noch einmal mit dem Suchen beginnt, dabei ruhig und im Uhrzeigersinn durch die Wohnung wandert, nicht mehr zurück sieht, wo man schon nachgeguckt hat und dann wirklich sicher ist, keine Stelle ausgelassen zu haben.
Bei den Kühnes hilft auch das nichts. Die Haushaltshilfe schlägt vor, zum Heiligen Antonius zu beten. Dem hatte einst ein Mönch den Psalter entwendet und dann reuig zurückgebracht, nachdem er von Erscheinungen geplagt worden war. "Glorreicher Heiliger Antonius, lass mich das Verlorene wiederfinden und zeig mir so deine Güte", diese Worte soll man zum Heiligen beten, den man weltweit dafür auserkor, ein Helfer beim Suchen und Finden zu sein. Glaubt man entsprechenden Berichten im Internet, ist er dabei ausgesprochen erfolgreich, allerdings vor allem dann, wenn es darum geht, einen Finder dazu zu bringen, die Sache dem wahren Eigentümer zurückzugeben.
Tatsächlich gibt es eine ganze Menge verantwortungsvoller Finder, speziell was verlorene Schlüssel betrifft. "Schlüssel, ja, die werden bei uns häufig abgegeben", sagt etwa der Hamelner Polizeibeamte Guido Krosta. "Das gehört zu unserem täglichen Geschäft." Da viele Leute gar nicht wüssten, wo sich das Fundbüro befindet, wohl aber wo die nächste Polizeistation liegt, die ja außerdem rund um die Uhr und auch am Wochenende geöffnet ist, ergäbe sich eine richtiggehende Zusammenarbeit zwischen Polizei und Fundbüro. "Wir nehmen sorgfältig eine Fundanzeige auf, und nicht selten ruft schon bald danach ein Bürger bei uns an, der genau diese Sache vermisst", so Guido Krosta. Ansonsten fahren die Beamten werktäglich zum Fundbüro im Rathausplatz-Bürgeramt, um dort die gesammelten Fundsachen abzugeben.
Nicht anders ist es in Bad Pyrmont, wobei die Beamten des Bürgerservice in manchen Fällen auch von sich aus Kontakt zur Polizei aufnehmen. "Wenn Auto- oder Sicherheitsschlüssel bei uns anlanden, telefonieren wir sofort mit den Kollegen der Polizei", sagt Mitarbeiter Wolfgang Mergel. "Manchmal hat sich da bereits ein Mensch in Panik gemeldet und wir freuen uns, wenn wir schnell helfen konnten." Da sich aber Schlüssel nicht leicht einem Besitzer zuordnen lassen - anders als Handys oder Portemonnaies mit Besitzerdaten - besteht eine der Aufgaben der Fundbüro-Angestellten darin, die Schlüssel nach sechsmonatiger Verwahrung zu vernichten.
Das Ehepaar Kühn nun ist inzwischen geneigt, an die "Borgmännchen" zu glauben und darauf zu hoffen, dass der Heilige Antonius diese kleinen heimlichen Hausmitbewohner möglichst schnell dazu bringt, die möglicherweise ausgeborgten Schlüssel gefälligst wo auch immer, jedenfalls gut sichtbar, zurückzulegen. Von den "Borgmännchen" erzählt die Engländerin Mary Norton in einem alten Kinderbuch und erfand damit durchaus gutmütige kleine Gesellen, deren Anwesenheit und vorübergehende Benutzung von Haushaltsdingen erklärt, warum verlorengegangene Dinge manchmal an überraschenden Ort wieder auftauchen.
Horst Weber vom Schlüsseldienst, er bringt verlegte Schlüssel zwar nicht zurück, aber er kann neue Schlüssel anfertigen. Gemütlich sitzt er in seinem Ladengeschäft in der Rintelner Ritterstraße und tröstet so manche seiner älteren Kunden, wenn diese meinen, der Schüsselverlust sei bereits einer Altersverwirrtheit geschuldet. "Ich habe ziemlich durchmischt mit Menschen zwischen 16 und 80 zu tun - jeder verliert Schlüssel, zu meinem Glück, ja...", sagt er. "Dass ich auch den Psychologen spiele, gehört zum Service dazu."
Die für Schlüsselverlierer oder -verleger besonders dramatischen Fälle sind ja diejenigen, wo man hilflos vor der Haustür steht und nicht mehr hineinkommt. Dann verlässt Horst Weber seinen kleinen Geschäftsraum und macht sich, zu welcher Uhrzeit auch immer, auf den Weg zu verschlossenen Türen, vor denen Menschen auf ihn warten, die manchmal ganz aufgelöst sind. "Sie haben Angst, dass es schrecklich viel kosten wird, die Tür zu öffnen", sagt er. "Oder dass ich gleich die ganze Tür zerstören werde." Dabei nimmt er gerade mal 65 Euro für einen schnellen Eingriff, um alles wieder gut zu machen. "Den Schlüssel, wenn er denn verloren ist, den aber kann ich nicht einfach herbeizaubern."
So bleibt also in vielen Fällen weiterhin das Rätsel bestehen, ob sich ein Schlüsselbund einfach in Luft auflösen kann. Michael und Brigitte Kühn sind fast geneigt, diese Möglichkeit anzunehmen. Zumindest haben sie sich in ihr Schicksal ergeben. Mit Ersatzschlüsseln ausgerüstet machen sie sich auf den Weg in die Nachbarstadt Hameln.
Sie könnten im Baumarkt einen Metalldetektor einkaufen, in der Hoffnung, damit die Schüssel doch noch irgendwo auf dem Grundstück rund ums Haus aufzuspüren. Sie könnten sich einen "BringMeBack"-Schlüsselanhänger besorgen, der mit einem speziellen Code versehen ist und einen Finder darauf hinweist, wie Schlüssel und Besitzer mit Hilfe entsprechender Firmen wieder zusammenkommen. Auch der Tipp von Horst Weber, die Schlüssel künftig an einem Band um den Hals zu tragen, käme vielleicht in Frage. Aber nein: Die beiden kaufen einfach ein besonders hübsches neues Schlüsseletui. Ein kleiner Trost für ziemlich hektische Tage.

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