Donnerstag, 7. August 2014

Von Cornelia Kurth

Windeln, Stoffwindeln, Schlitzhosen


Pippi Langstrumpf hätte sie erfinden können, in einer ihrer wilden Geschichten über weit entfernte Länder, die "Kaidangku" nämlich, real existierende sogenannte Schlitzhosen, die fast alle Babys und Kleinkinder in China tragen, damit sie schnell und unkompliziert ihre großen und kleinen Geschäfte erledigen können, ohne dabei die Hose ausziehen zu müssen. Kaidangku, die Schlitzhosen, sie sind zwischen den Beinen offen und lassen einen Teil des Pos frei. Die meisten chinesischen Kinder tragen keine Windeln, und schon gar nicht die Wegwerfwindeln, die hierzulande das A und O rund um die Babypo-Hygiene sind. Wäre ein windelfreies Konzept auch irgendwie etwas für deutsche Eltern?
Kirsten Dornbusch, Familienhebamme im Landkreis Schaumburg muss herzlich lachen über diese Frage. "Windelfrei? Und gar noch Schlitzhosen? Vollkommen abwegig bei allen Eltern, mit denen ich zu tun habe. Niemand denkt auch nur ansatzweise über eine Alternative zur Wergwerfwindel nach." Tanja Steilen, die in Hameln die "Elternschule" leitet und unter anderem Stillberaterin ist, sie berichtet genau dasselbe, ebenso wie die Hamelner Frühförderkraft Anke Battmer, die im "BaKi" Baby- und Kleinkindkurse anbietet. "Es wäre durchaus möglich, ohne Windeln auszukommen", das sagen alle drei. "Aber", so Kirsten Dornbusch, "dafür müssten sich die Eltern ihren Kindern anpassen und nicht umgekehrt die Kinder den Bedürfnissen ihrer Eltern."
Wäre es denn überhaupt im Sinne kleiner Kinder, sie möglichst ohne Wickeln und Windeln aufwachsen zu lassen? Und wie, bitte, soll das denn gehen? Von China-Reisenden jedenfalls hört man allerlei Schauergeschichten über Kinderkot und -urin, der selbst in den Zentren großer Städte die Straßen und öffentliche Einrichtungen verschmutze. Wollen, sollten Kleinkinder jederzeit und überall ihre Geschäfte verrichten dürfen? Oder ist nicht vielmehr die Erfindung der Windel, speziell der bequemen und komfortablen Wegwerfwindel, ein Segen für alle Beteiligten?
"Das ist nicht leicht zu beantworten", sagt Tanja Steilen von der "Elternschule". "Insgesamt haben wir alle uns sehr weit entfernt von dem, was man 'natürlich' nennen könnte." Sie erlebe ständig, wie verunsichert Mütter und Väter im Umgang mit ihren Babys seien. Viele hätten geradezu einen Sauberkeitstick, nicht nur in Bezug auf die Ausscheidungen der Kleinen, sondern überhaupt mit allem, was das Spielen im und mit Dreck betrifft. Und nackt herumlaufen lassen sie die Kinder schon gar nicht. Mehr Unbefangenheit in Bezug auf die kindliche Körperlichkeit, das wünschten sich alle drei Fachfrauen. Andererseits: "Die Wegwerfwindeln sind ja perfekt an den modernen Familienalltag angepasst", so Tanja Steilen. "Sie sitzen gut, saugen die Flüssigkeit so auf, dass der Po lange trocken bleibt, und vor allem muss man nicht groß darauf achten, ob ein Kind in unpassenden Situationen mal muss."
Wer sein Kind "windelfrei" aufwachsen lassen möchte - in manchen Städten gibt es entsprechende Vereine, wo sich Eltern genau zu diesem Zweck zusammentun - der wird sich dabei auf ein besonders enges kommunikatives Verhältnis zum Baby und Kleinkind einlassen. Dann erkennt man, dass schon die kleinen Babys unwillkürliche Zeichen geben, wenn sie "müssen". Hält man es im passenden Moment ab und macht dazu ein immer gleiches Geräusch - in China ist es eine Art Pfiff, in Frage kommt auch ein "tssssst" - dann kann sich bereits in den ersten Lebensmonaten ein Wechselspiel zwischen Eltern und Babys entwickeln, das schließlich zu einem erstaunlich frühem Trockenwerden führt.
In China und auch in anderen Ländern, wo es normal ist, dass Kinder keine Windeln tragen, sind sich die Kleinen oft schon mit einem Jahr ihrer Ausscheidungen so bewusst, dass sie absichtlich signalisieren können, wann es soweit ist. Chinesische Eltern haben oft ein tatsächlich auch "China-Töpfchen" genanntes kleines Gefäß dabei, das es in besonderen Läden auch in Deutschland zu kaufen gibt. "Es wäre aber gewiss sehr ungewöhnlich, wenn hiesige Eltern umstandslos so ein Töpfchen hervorzögen", so Familienhebamme Kirsten Dornbusch. "Für ein 'Windelfrei' ist unsere Gesellschaft einfach nicht eingerichtet."
Das sind und waren allerdings auch andere und viel frühere Gesellschaften nicht. Die göttliche Maria wickelte den Bibelworten nach ihren Jesus-Sohn in Windeln. Im mittelalterlichen Europa waren es oft Lein- und Schafwollhöschen, die mit Heu oder Stroh ausgestopft wurden. Die ländliche Bevölkerung Afrikas nutzt bunte Wickeltücher, die bei Bedarf am nächsten Fluss ausgewaschen werden, und die Babys der Inuit tragen Lederwindeln mit einer Mooseinlage. Auch unsere unmittelbaren Vorfahren benutzen selbstverständlich Stoffwindeln für die Kleinen, die jede Menge Arbeit verursachten, gab es doch in den wenigsten Groß- und Urgroßelternhaushalten bereits Waschmaschinen, so dass die verdreckten Tücher erst grob gereinigt und dann in großen Töpfen ausgekocht wurden.
So erschien es vor allem den Müttern wie ein Geschenk des Himmels, als im Jahr 1973, 12 Jahre, nachdem sie in Amerika herausgekommen waren, die ersten Wegwerfwindeln auf den Markt kamen, die "Pampers". Deren Name leitet sich vom englischen "to pamper" ab, was so viel wie "verwöhnen" heißt, und dieses "Verwöhnen" bezog sich nicht nur auf den Babypo, sondern auch auf die Hausfrau, deren Leben durch diese Erfindung so spürbar erleichtert wurde.
Diese Windel-Revolution fordert allerdings einen hohen Preis in Form von geradezu gigantischen Müllbergen. Da Kinder in den superbequemen Windeln kaum etwas davon merken, wenn sie bereits voll gemacht sind, dauert es meistens die ersten zweieinhalb bis drei Lebensjahre, bis sie auf die Schutzhülle rund um den Po verzichten können. Etwa 5000 Windeln verbraucht das durchschnittliche Kind, allein in Deutschland fallen jährlich um die 340 Tausend Tonnen höchst problematischen Windelmülls an, dessen Kunststoffbestandteile 300 Jahre und mehr brauchen, um zu verrotten.
Als sich nachdenkliche Eltern dieses Problems vor etwa 20 Jahren zum ersten Mal bewusst machten, gab es einen kleinen Boom auf Stoffwindeln, solange, bis die Windelindustrie in großen Kampagnen verbreitete, dass diese wegen des hohen Reinigungsaufwandes letztlich umweltschädlicher seien als die Wegwerfwindeln. "Ich selbst habe meine drei Kinder auch in Stoffwindel gewickelt", so Tanja Steilen. "Aber es war schon mit ziemlich viel Arbeit verbunden."
Heute könnte das ganz anders aussehen, das betonen die drei erfahrenen Frauen. "Die modernen Stoffwindel-Systeme sind eigentlich die perfekte Alternative zur Einwegwindel", so Anke Battmer von "BaKi". "Ich überlege sehr, ob ich nicht in Süddeutschland, wo sie üblicher sind, eine Ausbildung zur 'Stoffwindel-Beraterin' absolviere." Die aktuellen Windelhöschen haben kaum noch etwas mit den traditionellen Stoffwindel gemein. Sie bestehen aus einem Überhöschen in, falls gewünscht, ziemlich poppigem Design, in welches ein spezielles Vlies eingelegt wird, dass sich umstandslos und ökologisch fast neutral entsorgen lässt. Das Höschen selbst muss nur alle paar Tage gewaschen werden.
Trotzdem hatten weder Kirsten Dornbusch noch Anke Battmer und Tanja Steilen bisher eine Chance, solche Windelsysteme ihrer Elternklientel nahezubringen. "Sowas ist einfach kein Thema", sagt Tanja Steilen. "Die Einwegwindel hat sich überall in den Köpfen eingebrannt, und man müsste für einen Einkauf auch bis nach Hannover fahren oder sich übers Internet kundig machen." Nicht nur die etwas teure Erstausstattung schrecke Eltern ab (und das, obwohl sich die Investition in kürzester Zeit amortisiert), sondern auch das, was sie den "Verlust der Natürlichkeit" nennt und was auch Kirsten Dornbusch feststellt: "Viele Eltern fürchten sich vor den Ausscheidungen ihrer Kinder, und sie fürchten auch, was nicht der Fall ist, es könne den Kindern schaden, wenn sie mal etwas länger mit den Ausscheidungen in Kontakt bleiben."
Die Wegwerfwindel-Industrie ist aktuell dabei, sich den chinesischen Markt zu erobern und "Kaidangku" langsam zu verdrängen. Setzen Pampers und Konsorten sich dort endgültig durch, kämen jährlich über neun Millionen Tonnen Windelmüll hinzu. "Wirklich - ich sollte Stoffwindelberaterin werden", so Anke Battmer. "Das wäre immerhin ein Anfang zum Umdenken."

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