Dienstag, 5. März 2013

Sie möchte ein Kind, er will ein Boot

Cornelia Kurth

In den nächsten Tagen erscheint ein Buch, so rührend verrückt, dass es gute Chancen haben dürfte, ein Verkaufserfolg zu werden. Sein Titel: „Ich glaube, ich bin jetzt mit Nils zusammen…“. Der Inhalt: Auszüge aus Teenager-Tagebüchern. Die Herausgeberinnen: Zwei etwa 30-jährige Frauen aus Hamburg, die selbst unendlich viele Tagebücher vollkritzelten und vor zwei Jahren auf die Idee kamen, regelmäßig zu einem „Diary Slam“ aufzurufen, zu Veranstaltungen also, bei denen man sein altes Tagebuch mitbringt und daraus mutig vor vielen Zuhörern vorliest, um zum Sieger des Abends zu werden.
Wer das wagt, der muss mit der damaligen Zeit emotional abgeschlossen haben, sagen die Autorinnen. Es sei nämlich unvermeidbar, dass gerade die gefühlvollsten Passagen zu wahren Lachstürmen im Publikum führen.

Ella Carina Werner, eine der beiden Buchautorinnen und „Erfinderinnen“ des Diary-Slam (Slam heißt so viel wie „Schlagabtausch“) stammt aus Bad Oeynhausen, und wer schon einmal dabei war, wenn sie selbst aus ihren alten Tagebüchern liest, weiß eine ganze Menge über das Mädchen aus der Provinz, das sie damals war. Darüber, dass ihr Vater Psychologe und ihre Mutter Bauchtänzerin war, steht zwar nichts in ihren Notizen, dafür aber umso mehr über einen „René Kübel“.
Im Mai 1995 heißt es: „O man, René Kübel, ich habe dich so lieb. Du bist nicht schön, aber für mich gibt es niemand Faszinierenderen als dich.“ Wenig später: „Kübelchen, du bist ja so süß!“ Kurz darauf: „René Kübel, ich bin so verrückt nach dir!“ Und dann: „Bin mit Kübel zusammen. Schade, dass wir nicht so gut über Gefühle und Probleme reden können – er hat von beidem nicht viel.“
Blick nach Hamburg: Hier findet der „Diary-Slam“ statt. In der Kneipe „Aalhaus“, eine typische, gemütliche Eckkneipe mit Holztischen und schummrigem Licht, in der sich nun über 100 Menschen dicht an dicht drängeln, in der Hoffnung, dass sich unter ihnen einige befinden, die ihr Tagebuch dabeihaben und sich auf die kleine Bühne wagen. Schließlich melden sich fünf Frauen – Männer sind eher selten unter den Vorlesern – und der Moderator bestimmt noch eine zweiköpfige Jury, die am Ende entscheiden soll, wer ein niedliches kleines Tagebuch gewinnt.

Zur Einstimmung stellt sich Nadine Wedel, die zweite Herausgeberin des Tagebuch-Buches an Mikrofon. „Es sind ja Geschichten, die niemals für ein Publikum gedacht waren“, sagt sie. „Aber die meisten von uns fühlen sich ja liebend gerne in den großen Leidensdruck der anderen ein.“
Ihr erster Eintrag als Fünfzehnjährige: „Ich habe mich in Marco verliebt. Ich wollte nicht, aber was soll ich tun, ich habe keine Macht über meine Gefühle.“ Immerhin stellt sie dann doch eine ganz rationale Liste dessen auf, was in der nächsten Zeit für sie besonders wichtig sein soll: „1. Wirtschaftsschule. 2. Marko. 3. Gesundheit.“ Schon hier klatscht das Publikum, und tatsächlich wird es auch im weiteren Verlauf des Abends immer wieder einfach umwerfend sein, auf wie manchmal überschwängliche, manchmal unbeholfene, immer entwaffnend ehrliche Weise die damaligen Tagebuchschreiberinnen zu fassen versuchten, was in und mit ihnen geschieht.

Da ist zum Beispiel Astrid, heute eine 63-jährige Lehrerin, damals eine 21-jährige junge Frau, die schrieb: „Mein Tagebuch soll mir helfen, mich im Zwiegespräch mit mir besser kennenzulernen.“ Der zweite Eintrag dann: „Oh – ich habe lange nichts geschrieben, dabei liegt zwischen dem ersten und dem heutigen Datum meine Hochzeit.“ Man ahnt schon, dass es diese Ehe nicht weit bringen wird: „Jürgen sagt, ich sei bewegungsfaul, stimmt ja, aber er sagt es vorwurfsvoll und ohne Verständnis.“ Und dann: „Wir waren bei der Einzel-Eheberatung. Ergebnis in Stichworten – ich möchte ein Kind, Jürgen ein Boot.“
Astrid liest das ganz gelassen vor, den Publikumsjubel nimmt sie ruhig entgegen. Dabei findet sie selbst diese Auszüge gar nicht so lustig. Sie hatte in der Zeitung einen Bericht über das „Diary Slam“ gelesen und daraufhin, klassisch, auf dem Dachboden nach dem Karton mit alten Tagebüchern gesucht. „Es war seltsam und spannend, diese Geschichte wieder an mich ranzulassen“, sagt sie später im Gespräch. „Ich war doch ziemlich bewegt und dachte, es sei eine gute Möglichkeit, einfach hier vorzulesen und es dann endgültig hinter mir zu lassen.“ Im Tagebuch sah das so aus: „Endlich leben und ich selbst sein! In vier Tagen Spirale raus und in sechs Tagen Scheidung einreichen!“

Sigrid, Jahrgang 1960, begann mit 13 Jahren das erste Tagebuch und hat inzwischen eine ganze Bibliothek davon angesammelt. Das Buch, aus dem sie liest, trägt den Namen „Conni“ und wird wie ein echtes Gesprächsgegenüber persönlich angesprochen, als säße sie mit der liebsten Freundin beim Tee. Mit 14, als Konfirmandin, verachtet sie die Erwachsenen in der Kirche. „Ihnen ist ihre Überzeugung egal, sie haben ja eh nichts anderes und Kirche gehört bei ihnen dazu wie Geschirrspülen oder Schweinefüttern.“ Sie selbst fühlt sich wie „eine alte, hässliche, verbrauchte Ehefrau“, was sie nicht daran hindert, sich entschieden mit „Claudia, der Wahrheitsrechtlerin“ zu kloppen, weil die nämlich ihre Freundin als „Hure“ beschimpfte, ein im Jahr 1974 beinahe unglaubliches Schimpfwort.
Alle, die auf die Bühne treten und lesen, werden von der Sympathie des Publikums wie auf Händen getragen. Es gibt Lachen und Beifall, Zurufe und Bitten um Zugaben. Jeder Kleinkünstler könnte sich über solch eine Wirkung glücklich schätzen.
Im Vorwort zum Buch „Ich glaube, ich bin jetzt mit Nils zusammen…“, erklären Ella Carina Werner und Nadine Wedel es so: „Das Tagebuch muss raus aus der Schublade, rein ins Rampenlicht. Denn es hat alles, was ein guter Text braucht: Helden und Antihelden, wüste Plots und steile Pointen, Bösewichte und Sündenböcke, Liebesdramen, Tragödien, Happy Ends und jede Menge Identifikationspotenzial.“

Bisher hat so ein Diary Slam deutschlandweit nur in wenigen großen Städten stattgefunden. Dafür gab es in Hameln-Pyrmont und Schaumburg immerhin bereits recht erfolgreiche „Poetry Slams“, also Wettstreite wer, oft auch spontan, das beste Gedicht vorzutragen hat. Uta Fahrenkamp, Buchhändlerin in Rinteln, sie könnte sich vorstellen, bei der Organisation eines „Diary Slams“ dabei zu sein. „Meine eigenen Tagebücher habe ich allerdings alle verbrannt“, sagt sie. „Wie schade, denn jetzt wünschte ich doch, ich könnte mich am Vorlesen beteiligen.“
Es sei ziemlich häufig der Fall, dass man im Erwachsenenalter seine Jugendtagebücher vernichte, so Ella Carina Werner. Bevor man nicht wirklich über die Irrungen und Wirrungen der Jugend hinausgewachsen ist, sollte man sie also vorsichtshalber noch in ihrem Versteck lassen.
Wer aber wagt, auf den Dachboden oder in den Keller zu steigen, in Schubladen und Kartons nach alten Aufzeichnungen zu wühlen, muss sich darauf gefasst machen, dass sein Lesestoff in den darauf folgenden Tagen nur noch aus der selbst verfassten „Literatur“ bestehen wird. Mit Glück lächelt man dann über das Ich, das man einst war oder sein wollte, und wer weiß, vielleicht ergibt sich daraus dann die Verlockung, Ausschnitte daraus in einem Schaumburger Diary-Slam zu präsentieren.
Vor dem eigentlichen „Slam“ braucht man keine Angst zu haben. Dass es Sigrid ist, die in Hamburg das Tagebuch gewinnt, es interessiert kaum, weil einfach alle, die vorlesen, den anderen damit ein wunderbares Geschenk machen.

Was aber alle gerne wissen wollen, ist, wie die Sache zwischen Ella Carina und René Kübel ausging. Nun, anscheinend verlief sie sich, wie so manche weitere ihrer vielfältigen Jungsleidenschaften auch. Die letzte Meldung zum Thema: „Ich möchte voll gerne mit René schlafen. Ich fühle mich jetzt reif und verantwortungsvoll und bin voll geil auf ihn. Nur krieg’ ich die Pille erst in einem Monat, aber da fahre ich erst mal sechs Wochen nach Frankreich.“ Ach ja.
Das Buch „Ich glaube, ich bin jetzt mit Nils zusammen….“ erscheint im Scherz-Verlag, kostet knapp 15 Euro und vereint auf 300 gebundenen Seiten Auszüge aus etwa 80 Jugendtagebüchern, eine rundherum erheiternde Lektüre, erst recht, weil auch solche Sätze drin stehen: „Allmählich wird mir mulmig. Wenn jemals einer dieses Buch findet! Ich verteidige es bis in mein Grab. Geschworen.“ (Ellen, 12 Jahre)

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