Sonntag, 16. Januar 2011

Nicole Richards - Schwester, rubbel etwas fester

"Beate Uhse? Liebeszimmer für die alten Eltern? Das fehlte noch!"

Geronto-Psychologin spricht über Tabuthema: Sexualität in Pflegebeziehungen

Von Cornelia Kurth

Nicole Richards ist Diplom-Gerontopsychologin. Ihr Fachgebiet ist die Psyche geistig verwirrter alter Menschen, ihre Vorträge und Seminare gelten dem angemessenen Umgang mit Alzheimer- und Demenz-Patienten in Pflegeeinrichtungen. Wenn sie aber vor ihrem Publikum, den überwiegend weiblichen Pflegekräften in diesen Einrichtungen, erscheint, dann könnte man sie glatt für eine Kabarettistin halten. Ohne Scheu gab sie einer Fachtagung im Kreishaus Stadthagen den provokanten Titel: "Schwester, rubbel etwas fester!" und brachte damit das Tabu-Thema "Sexualität in Pflegebeziehungen" auf den Punkt. Wie geht man mit geistig verwirrten Senioren um, die auf oft drastische Weise Sex und Liebe einfordern?

"Die meisten sagen sich doch: Alte Menschen mit Demenz, ist es bei denen mit Sex nicht mal vorbei?", so begann sie ihren Vortrag. "Doch wir wissen alle aus unserem Pflegealltag: Nein, das ist es nicht!" Allerdings gäbe es in kaum einer der über 10.000 Pflegeeinrichtungen Deutschlands ein Sexualitätskonzept und entsprechenden Leitlinien. "Zum Geschäftsführer eines Seniorenheims sagt niemand: 'Rubbel mal ein bisschen fester'. Die Pflegekräfte stehen mit dem Problem alleine da und wissen oft überhaupt nicht, wie sie handeln sollen und dürfen." Beim Waschen an gewissen Körperteilen wirklich "etwas fester rubbeln"? Den alten Leuten einen Porno besorgen oder sie zu Beate Uhse begleiten? Liebeszimmer einrichten und den Angehörigen irgendwie verklickern, dass der Vater mit einer neuen Frau sehr glücklich ist, während vor der Tür die angetraute Ehefrau steht und es nicht fassen kann?

"Sexualität gehört inzwischen auch im Alter eigentlich zur Normalität", meinte sie und zeigte dafür nicht, Statistiken und anrührende Bilder von verliebten Alten, sondern auch ein eher drastisches Szenenfoto aus Sönke Wortmanns Film "Wolke 9". "Na und?", sagte sie. "Hat nicht jeder das Recht, nach Liebe und Sex zu streben?" Die Sache sei aber, dass die demenzkranken Alten die Kontrolle über ihren Verstand verloren hätten. Wo sie sich wenige Jahre zuvor noch ganz normal benommen hätten, übernähmen aufgrund der Krankheit ungesteuerte Gefühle und Affekte die Regie.

So könne es eben vorkommen, dass eine ehemalige Lehrerin in der Zimmerecke steht und laut schreiend nach Sex verlangt, dass ein netter Alter wo auch immer er eine Frau sieht, die Hosen runterlässt oder ein anderer im Flur lauert, um vorübergehenden Pflegerinnen an den Busen zu grabschen. Aus ihrer eigenen Erfahrung als Leiterin eines Seniorenheims für Demenzkranke schilderte sie den Fall eines Alzheimerpatienten, der über Tage hinweg auch in Gegenwart der Pfleger damit beschäftigt war zu masturbieren. "Sein "'Willi' war schon ganz rot...". Schließlich besorgten sie ihm eine "Vorlage", die sie an die Zimmerwand projizierten. Dann endlich gelang das Gewünschte.

Ja - es waren durchaus krasse Situationen, die Nicole Richards ansprach, ohne dabei lange nach umschreibenden Worten zu suchen. "Ich tue das, weil sonst kaum jemand darüber redet", sagte sie und erzählte gleich, wie sie sich mit großer Einkaufstasche in einem Sexshop umsah, um allerlei Hilfsmittel einzukaufen, die auch für demente Patienten in Frage kämen. "Besser, man kann Dildos und Vibrator anbieten, als dass gänzlich ungeeignete Gegenstände für die Selbstbefriedigung benutzt würden und die Leute dann im Krankenhaus landen."

Das eigentliche Problem bestünde darin, dass die Betreiber von Pflegeeinrichtungen solche Vorgehensweise meistens nicht dulden würden. "Die haben Angst vor Sexthemen und davor, dass Angehörige sagen: "Da gebe ich meinen Vater doch nicht hin? Dildos? Beate Uhse? Liebeszimmer? Das fehlte noch!" Und überhaupt die Angehörigen. Für die sei das Thema ebenfalls tabu. "Wer denkt schon gerne genauer darüber nach, dass auch die alten Eltern sexuelle Wesen sind?"

Erstaunlicherweise handelte ihr langes Referat nur auf den ersten Blick von "Sexualität in Pflegebeziehungen". Dahinter steckte die allgemeine Frage, wie man Alzheimerpatienten und andere demente Senioren überhaupt irgendwie so ansprechen kann, dass man sie auch ohne einen argumentierenden Dialog erreicht. Nicht nur in Sachen Sexualität haben die Kranken ja ihre Anbindung an den Alltag und eine vernünftige Kommunikation verloren. Auch in allen anderen Alltagsorientierungen fehlt ihnen der Kompass, der ihr Leben in geregelte Bahnen leitet.

Auf bewegende Weise und mit viel schauspielerischem Talent spielte Nicole Richards tragikomische Szenen vor: Ein altes Weiblein, das unbedingt nach Hause will, obwohl sie doch gar keines mehr hat; eine andere Alte, die sich laut fluchend darüber beschwert, dass man ihr Zimmer verwüstete; einen Mann, der störrisch was zu essen verlangt, obwohl er doch gerade gegessen hat. Man sei dann geneigt zu sagen: Erinnern Sie sich denn nicht? Denken Sie doch mal nach! "Doch genau das können die Dementen nicht mehr!"

Ihre Methode zur Deeskalation solcher typischen Situationen ist ein längst ausgefeiltes Konzept mit dem Namen: "Integrative Validation". Validation bedeutet hier, die Gefühlsäußerungen eines verwirrten Alten grundsätzlich wertzuschätzen und sie auch dann ernst zu nehmen, wenn sie sich auf eine längst vergangene Realität oder auf Einbildungen beziehen. Das Stichwort "integrativ" bezieht sich auf einen Pflegeansatz, der sich bemüht, den Patienten wieder das Gefühl zu geben, bei sich selbst zu sein. "Wir korrigieren und bewerten nicht die Dinge, die die Verwirrten sagen. Das können sie nicht mehr verstehen. Wir geben ihnen eine Rückmeldung über das Gefühl, das sie bewegt und das unzweifelhaft real ist."

Diese positive Rückmeldung brächte die Alzheimerpatienten in vielen Fällen zur Beruhigung. "Wir dürfen keine Warum-Fragen stellen. Uns nicht auf das konkrete Gestern oder Morgen beziehen. Die Leute auch nicht vor abstrakte Alternativen stellen. Das sind keine Orientierungspunkte mehr im Meer der Verwirrtheit." Stattdessen solle man sich nach einer ersten Bestätigung - "Sie sind ein Familienmensch"; "Sie haben es gerne ordentlich" oder "gut zu essen bedeutet Ihnen viel" - auf Grundantriebe beziehen und den Menschen so wieder verankern: "Ein gutes Miteinander tut wohl" oder "Ordnung muss ein!" oder "wer arbeitet, soll auch essen." Oft helfe dieser Bezug auf Allgemeinplätze oder auch auf Gedichte und Lieder, die den Verwirrten noch im Kopf sind.

Dann, erst dann, könne es darum gehen, ein Verhalten zu ändern. Auf der Basis eines gemeinsames Verständnisses sei es möglich, den dementen Menschen zu erreichen. In diesem Sinne antwortete Nicole Richards auf die Frage einer Pflegerin im Publikum, die erzählte, dass es in ihrer Einrichtung eines Mann im frühen Alzheimerstadium gäbe, der rund um die Uhr Pornos ansähe und sich strikt weigere, das zu unterbrechen, wenn der Pflegedienst seine Aufgaben zu erfüllen habe. Während einige Pflegerinnen sich entschlossen hätten, die Pornos einfach zu ignorieren, sei die Geschäftsleitung zu dem Schluss gekommen, es handle sich um pure Provokation und der Mann solle erst dann wieder gepflegt werden, wenn er sich füge. Sie wüssten eigentlich gar nicht, was sie tun sollten.

Klar sei, so Richards, dass laufende Pornos während der Pflegehandlungen unzumutbar seien. Dem Mann die Pflege zu verweigern, als wäre er ein störrischer Jugendlicher, der eigentlich begreife, was er da verlange, sei aber ebenso daneben. Sie schlug vor, ganz nach ihrer Methode der "integrativen Validation", dem Patienten zunächst zu bestätigen: "Sie sind ein sinnlicher Mann. Sexualität bedeutet Ihnen viel", um dann darauf hinzuweisen, dass alles seine Zeit habe und dass jeder Mensch eben anders sei. Das ergäbe eine Basis, auf der man den Fernseher eine Weile ausstellen könne. Die Pflegerin versprach, den Vorschlag in ihre Einrichtung zu tragen und ihr dann eine Rückmeldung zu geben.

Was das Ausgangthema betraf, sexuelle Wünsche von geistig desorientierten alten Menschen, so relativierten sich im Laufe des Vortrages viele der im ersten Moment so kompliziert erscheinenden Situationen. Oft lebten Alzheimerpatienten in einer Welt, in der sie in der Blüte ihrer Jahre stünden und sich Dinge zutrauten, zu denen sie in Wirklichkeit gar nicht mehr fähig, ja, die eigentlich gar nicht ihre Wünsche seien, so die Gerontopsychologin. "Der Wunsch nach Sex ist in den allermeisten Fällen einfach der Wunsch nach Beachtung, Liebe, Geborgenheit", sagte sie.

Viel sei schon geholfen, wenn man diese Sehnsüchte einfach bestätige. Die ehemalige Lehrerin, von der sie erzählte und die immer lauthals mit groben Worten nach Sex verlangte, sie habe sich einfach einsam und verlassen gefühlt. Nach entsprechenden Worten habe sie sehr geweint und sich in den Arm nehmen lassen. "Natürlich war es nicht das letzte Mal, dass sie sich so benahm", so Richards. "Aber gut, dann macht man es beim nächsten Mal eben genau so wieder."

Silke Priebe, Leiterin des Fachdienstes Altenpflege im Landkreis und Organisatorin der Tagung, sie bekam mehrmals gesagt, dass es sehr mutig gewesen sei, so ein Angebot zu machen. "Ja, das war es bei diesem Tabuthema wohl auch", bestätigt sie. "Doch jetzt kommt es uns eigentlich ganz selbstverständlich vor." Das dringende Anliegen eines verbindliches Sexualitätskonzeptes in Pflegeeinrichtungen sei damit allerdings nicht aufgehoben. Ebenso wie Nicole Richards fürchtet sie, eine Umsetzung könne sich noch über Jahre hinziehen.

Richards kommt übrigens ursprünglich aus Holland und die Beispiele eines lockeren Umgangs mit den sexuellen Wünschen Demenzkranker stammen auch von dort. Die Schwester, die gebeten wurde, etwas fester zu "rubbeln", sie sagte, so Richards, sie habe es eben einfach getan. "Ob man so einem Wunsch folgt oder nicht, muss jedem persönlich überlassen bleiben. Aber die Pflegekräfte sollten die äußere Sicherheit haben, dass solche und ähnliche Vorgehensweisen zur Linderung der Not nicht von der jeweiligen Leitung sanktioniert werden."

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