Sonntag, 16. Januar 2011

Vikarin - Was für ein Beruf!

Von Cornelia Kurth

Wenn Annabelle Kattner (32) anderen Leuten erzählt, dass sie Vikarin ist, kommen oft erstaunte Nachfragen. Vikarin? Was soll das denn sein? "Mich wundert diese Unwissenheit nicht", meint sie. "Als ich mich in der Grundschule Rehren vorstellte, wussten viele Schüler noch nicht mal, was eigentlich ein Pastor ist." So erklärte sie den Kindern, dass Pastoren die Gottesdienste in den Kirchen leiten, Hochzeiten und Beerdigungen durchführen und dass man sie ansprechen kann, wenn man im Leben mal nicht weiter weiß. "Ich will Pastorin werden", sagte sie zu den Schülern. "Dafür muss man eine Ausbildung machen, das 'Vikariat'. Also bin ich Vikarin, so, wie Lehrer zu Beginn Referendare sind."

Dass der Begriff "Vikar" relativ unbekannt ist (er leitet sich aus dem Lateinischen ab und bedeutet soviel wie "Statthalter" oder "Stellvertreter"), es hängt auch damit zusammen, dass es gar nicht so viele angehende Pastoren mehr gibt, seit die Evangelische Kirche Stellen einspart und Gemeinden zusammenlegt. Zur Zeit absolvieren in der gesamten Niedersächsischen Landeskirche etwa 70 Vikare und Vikarinnen ihre Ausbildung. Die dauert über zwei Jahre, wobei alle halbe Jahr ein neuer Ausbildungszyklus beginnt.

Annabelle Kattner gehört zur jüngsten Gruppe von insgesamt 18 Berufsanfängern und ist die einzige, die einer Gemeinde im Kirchenkreis Schaumburg zugeteilt wurde, der Gemeinde von Rolfshagen/ Kathrinhagen. "Ja, kein Wunder, dass viele staunten, als ich plötzlich auftauchte", meint sie. "Man vergisst ja glatt, dass fertige Pastoren nicht einfach vom Himmel fallen." Bevor die Arbeit in der Gemeinde beginnt und sie ihrer Anleiterin Pastorin Heike Köhler auf Schritt und Tritt folgen wird, um das Berufsfeld von Grund auf kennenzulernen, gibt sie bis zum Februar Religionsunterricht in der Grundschule Rehren.

Ein Schulpraktikum war schon immer üblich in der Ausbildung zum Pastoren. Neu ist, dass es jetzt als Block der Gemeindearbeit vorangestellt wird. "Mir gefällt das", sagt Annabelle Kattner. "Da werde ich gleich mit den grundlegenden religionspädagogischen Dingen konfrontiert." Was sie sofort feststellen konnte: Die Zweit- und Drittklässler, mit denen sie zu tun hat, sind sehr offen, neugierig und aufgeschlossen gegenüber den Geschichten aus der Bibel, die nur die wenigstens noch innerhalb der Familie kennenlernen.

Gerade haben sie zusammen die Weihnachtsgeschichte gelesen und dabei viel über die Engel gesprochen: Ob sie sie wohl in Wirklichkeit gibt, ob man ihnen im Alltag begegnet, ob auch ein Mensch eine Art Engel sein kann und welche Rolle Engel in der Bibel spielen. "Ich selbst hatte ja eine Kinderbibel, die ich fast auswendig kannte. Mich haben Glaubensfragen schon sehr früh interessiert", so Annabelle Kattner. Ihre Jugend in Langenhagen sei stark geprägt gewesen von der Beziehung zur Kirche vor Ort. "Das ganze Programm: Kindergottesdienst, Bibelkreis, Kirchenchor, Zeltlager und immer wieder diese langen Gespräche über Gott und den Glauben."

Keine Frage, dass sie Theologie studieren würde. "Für mich war es lange eher ein geisteswissenschaftliches Studium, gar nicht so sehr der Weg zum Pfarramt. Ich wollte so viel wie möglich lesen und lernen. Ob ich nun Pastorin werden würde oder nicht, darüber habe ich lange gar nicht nachgedacht." Zu Beginn ist das Studium der Theologie eine ziemlich harte Probe darauf, ob man es wirklich will. Wer nicht in der Schule das große Latinum machte, muss es an der Uni nachholen und dazu auch noch, wie alle, griechisch und hebräisch lernen. "Der Anspruch ist hoch", meint Annabelle Kattner. "Schließlich geht es ja darum, die Bibeltexte auch im Original lesen zu können."

Neben der wissenschaftlichen Ausrichtung des Studiums, spielt allerdings früh auch die berufspraktische Ausbildung eine Rolle. In Leipzig, wo sie ihr Studium begann, waren besonders viele Pastoren unter den Dozenten, es gab Predigttheorie-Seminare, in denen die Studenten früh selbst Predigten ausarbeiteten und im Team Gottesdienste vorbereiteten. So dauerte es gar nicht so lange, bis Annabelle Kattner sich darauf einstellte, tatsächlich einmal in den Pfarrdienst zu gehen. "Ich merkte auch, dass ich in ungeplanten Seelsorge-Gesprächen anderen durchaus helfen konnte", sagt sie. Im Vikariat nun will sie erproben, ob diese Entscheidung auch wirklich Bestand haben wird.

Diese zwei Jahre der Ausbildung sind nicht nur von den Einblicken vor Ort geprägt, sondern entscheidend auch von der Beziehung zu den anderen Vikaren, die jetzt alle ähnliche Erfahrungen machen. In regelmäßigen Abständen kommen sie zu Ausbildungseinheiten im Predigerseminar Loccum zusammen, wo sie auf engagierte Dozenten treffen, aber auch unendlich viel miteinander reden, oft bis tief in die Nacht, bevor sie alle in den Räumen des Predigerseminars übernachten. "Diese engen Beziehungen sind sehr wichtig für uns", so Kattner. "Kaum ein anderes Studium ist ja so sehr mit dem eigenen Inneren verbunden."

Immer wieder geht es in diesen Gesprächen um das jeweils eigene Verhältnis zu Gott, um die Art, wie man an ihn glauben kann oder soll, um den Umgang mit persönlichen Zweifeln, und auch darum, wie man mit Menschen umgeht, die geistlichen Beistand suchen. Wo liegt die Grenze zwischen Theologie und Psychologie? Wo geht es um menschliche Tröstung, wo um Stärkung des Glaubens und soll man eigentlich missionieren oder die Menschen so nehmen, wie sie sind? "Wir stellen es uns gar nicht so einfach vor, Hochzeiten oder Taufen zu feiern und dabei zu wissen, dass die Beteiligten uns vielleicht eher als Dienstleister zur Organisation eines Festes brauchen und nicht als Geistliche."

Noch aber sind das eher theoretische Fragen. Erst im Februar wird Annabelle Kattner als Vikarin offiziell eingeführt, erst danach wird sie taufen, verheiraten oder - was statistisch gesehen als Erstes zu erwarten ist - eine Beerdigung durchführen. "Die Beerdigung, das ist das Einzige, wovor ich etwas Angst habe, wir alle haben das, wir sprechen viel darüber. Aber ansonsten freue ich mich sehr auf die Gottesdienste, auf das Predigen, ja, auch auf die Liturgie." Im Gegensatz zu manchem anderen Vikar, der sich davor fürchtet, seine Stimme würde nicht besonders schön klingen oder vielleicht auch einfach umkippen, weiß sie aus langer Chor-Erfahrung, dass sie eine wohlklingende Stimme hat. "Ja - das muss meine geringste Sorge sein."

Wenn es etwas gibt, was sie noch zweifeln lässt, ob sie nach dem Vikariat tatsächlich eine Pfarrstelle antreten wird, dann ist es der Umstand, dass die Arbeit als Pastor im Zuge der allgemeinen Einsparungsforderungen zugleich diejenige eines Gemeindemanagers ist, der viel Bürokratie auch rund um die Finanzen zu erledigen hat, möglicherweise zu Lasten des nahen Umgangs mit den Menschen in der Gemeinde.

"Manche von uns sind auch noch nicht im Klaren darüber, ob sie mit der besonderen Rolle, die sie als Pastor in der Öffentlichkeit übernehmen, klarkommen werden. Man hat eine Vorbildfunktion, aber man will ja zugleich auch 'ich' bleiben." Für all diese Unsicherheiten wählen sich die meisten Vikare einen eigenen Seelsorger, eine geistliche Begleitung während der Ausbildung, meistens einen Pastoren oder Religionspädagogen, die sich extra dafür zur Verfügung stellen.

Doch Unsicherheiten hin oder her - alle haben doch schon einen großen Schritt in Richtung Pastorenberuf getan, nämlich sich einen eigenen Talar schneidern lassen. Dieses schwarze Gewand mit dem dazugehörigen "Beffchen", dem weißen Kragen, kauft man nicht mal eben schnell von der Stange, nein. Dazu reiste extra ein Talarschneider aus Hamburg nach Loccum an, um bei jedem einzelnen Vikar Maß zu nehmen und sich dann per Handarbeit ans Nähen zu machen. Jede der vielen Falten wird durch den Könner zurecht genäht, jedes Knopfloch eigenhändig gekettelt. Ein guter Talar kostet um die 600 Euro, aber er hält dann auch mindestens 20 Jahre, ein halbes Berufsleben lang.

Bisher hat Annabelle Kattner ihren persönlichen Talar nur zur Probe angelegt, ein ziemlich mächtiges Kleidungsstück, ist sie doch über ein Meter 80 groß. Zur Wahl standen zwei Grundmodelle: Der "Preußische Talar" mit seinem großzügigen Faltenwurf und der "Hannover'sche Talar", der schlichter gehalten ist und eine etwas strengere Form aufweist. Sie entschied sich für den "Hannover'schen Talar". Wenn sie Ende Februar ihre erste Predigt hält, darf sie ihn endlich einweihen.

Dr. Christian Stäblein, Studiendirektor am Predigerseminar in Loccum, betont, dass sich die Landeskirche über jeden Menschen freut, der sich für ein Studium der Theologie mit dem Ziel Pfarramt entscheidet. Seit der 1990er Jahre habe es einen Einbruch bei den Studentenzahlen gegeben, weil zu viele fürchteten, sie würden wegen des Sparzwangs der Kirche keine Stelle bekommen. "Zwar besteht jetzt kein aktueller Mangel an Pastorennachwuchs", sagt er. "Aber Studienanfänger können doch davon ausgehen, dass sie in unserer Kirche gebraucht werden."

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