Sonntag, 16. Januar 2011

Transsexuell - "Ich war nie ein Mann"

Von Cornelia Kurth

Alexandra Galle (56) aus Bad Eilsen ist Schiffselektrotechnikerin. Jahrelang fuhr sie zur See, unter anderem auf Europas größtem Trockenfrachtschiff, der MS Hermod, wo sie verantwortlich war für die die gesamte Elektronik an Bord und im Maschinenraum des damals mächtigsten Dieselmotors der Welt. Selbst fast 1,90 Meter groß und kräftig, bewegte sie sich unter rauen Männern, und als sie später auf der MS Thor anheuerte, nannte sie der leitende Schiffsingenieur: "Meine Lieblings-Elektrikerin". Ein wirklich ungewöhnlicher Beruf für eine Frau. Beworben hatte sie sich dafür mit einem Männernamen im Seefahrtsbuch und bis zu ihrem Outing an Bord hatten alle auch wie selbstverständlich gedacht, sie sei ein Mann.

"Aber ich war nie ein Mann!", sagt sie. "Ich hasse es, wenn man so über mich redet, wenn es heißt, ich hätte mein Geschlecht 'umgewandelt'. Ich wurde mit männlichen Geschlechtsmerkmalen geboren, ja. Doch schon als kleines Kind war mir irgendwie klar, dass das was ganz Grundsätzliches nicht stimmt. Ich bin eine Frau, schon immer gewesen. Und trotzdem musste ich mir mein Frausein so schmerzhaft erkämpfen."

Dass sie Schiffsbetriebstechnik studierte und einen Beruf wählte, der mehr als die meisten anderen als Männerberuf gilt, ja - sie lacht auf ihre ansteckende Weise - dass sei durchaus typisch für transsexuelle Frauen. "Als Jugendliche hatte ich die Hoffnung aufgegeben, jemals so sein zu können, wie ich eigentlich bin. Ich dachte: o.k., bitte, dann spiele ich eben dieses Schauspiel für euch!" Viele der Menschen in ihrer Situation würden es ähnlich machen und zur Bundeswehr gehen, Automechaniker werden, irgendetwas besonders Männliches tun und eine Zeitlang versuchen zu beweisen, dass sie sich anpassen können, zur Gemeinschaft dazugehören können.

Aber es gelang nicht, diese Rolle aufrechtzuerhalten. Es hatte ja schon in der Kindheit nicht geklappt, wo sie sich immer wieder heimlich die Kleidung ihrer großen Schwester anzog und dafür die Prügel von ihrem Vater einsteckte und die heftigen Zurechtweisungen ihrer Mutter. "Ich war, seit ich denken und fühlen konnte, im Zwiespalt gewesen. Ich fühlte mich als Mädchen und wollte doch als Junge dazugehören, normal sein. Schließlich war ich überall Außenseiter. Nur wenn ich mich in meine eigene kleine Welt zurückzog, in meine innere Fluchtburg, konnte ich manchmal auf fast unheimliche Weise glücklich sein."

Damals in den 1980er Jahren, als sie auf der MS Thor fuhr, da vertraute sie sich nach einigen Monaten dem Schiffsingenieur an. "Das war ein ostfriesischer Riese, ein Mann mit dem Herz am rechten Fleck und mein bester Kumpel. Er tröstete mich oft wie ein großer Bruder und wenn jemand von den anderen mich mobben wollte, dann ging er auch mal mit der Faust dazwischen." Die Zeit auf den Schiffen, weit draußen auf dem Meer, fern der Familie und fern einer Gesellschaft, in der sie sich immer fehl am Platz fühlen musste, war einigermaßen erträglich. "Seltsam, nicht wahr, dass ich in dieser Männerwelt und unter den Seeleuten noch am besten klarkam."

Allerdings hatte sie da auch bereits schon an Selbstbewusstsein gewonnen. Die Schiffe der großen Reederei, wo sie beschäftigt war, liefen immer wieder Rotterdam an. Von einem holländischen Arzt, den sie dort aufsuchte, wurde sie an das Klinikum Amsterdam überwiesen, wo nach vielen Monaten und vielen Untersuchungen die Diagnose gestellt wurde, dass sie transsexuell sei, tatsächlich nur körperlich ein Mann, von der Psyche her aber unabänderlich eine Frau. Sie solle unbedingt eine Hormonkur beginnen, anders wurde es niemals gehen, hieß es.

"Ich konnte das kaum fassen", meint Alexandra Galle. "Obwohl doch bestätigt wurde, was ich eigentlich schon immer wusste, war es wie ein Schock für mich. Es ist also wirklich wahr! Schaut her - ich spinne nicht!" Von Holland aus war es kein Problem, die entsprechenden weiblichen Hormone verschrieben zu bekommen, die die Körperbehaarung reduzieren, einen Busen wachsen lassen, den Körper nach und nach auf eine frauliche Erscheinung hin verändern. "Nun wurde ich zwar erst recht zum bunten Vogel, auch äußerlich zur Außenseiterin", sagt sie. "Und doch war das besser als alles vorher."

Vorher - vor dieser ärztlichen Bestätigung, dass es Transsexualität wirklich gibt, dass man sich ihr stellen muss und eine Behandlung braucht, die Körper und Psyche in Übereinstimmung bringt, da war sie schon so oft bei Ärzten, Psychologen und Psychiatern gewesen, zum ersten Mal bereits im Alter von fünf Jahren, als sich ihre Mutter, eine Küsterin, Sorgen machte um ihren "Jungen", der nur mit Puppen spielen wollte und schrie, wenn er zum Friseur gehen sollte. Immer nur wurde nach Wegen gesucht, wie sie ein richtige Junge werden könne, sei es durch psychologische Behandlungen, durch Verhaltenstherapien oder - wie es der autoritäre Vater versuchte - mit Gewalt. Nie ging es darum, wie ein Leben als Frau möglich sein könnte.

"Es war ein zerrissenes Leben!", sagt sie. "Ich kam sogar mal vor ein Jugendgericht, weil ich immer wieder Frauenwäsche von den Wäscheleinen klaute. Ich wagte ja damals noch nicht, mir solche Dinge selbst zu kaufen. Ich wagte überhaupt nichts, außer immer intensiver daran zu denken, dass ich so nicht mehr weiterleben und mich ebenso gut umbringen kann." Die Einsamkeit war so schrecklich, diese Unmöglichkeit, echte Freunde zu gewinnen. "Wie kann man denn echte Freunde haben, wenn man niemals zu sagen wagt, wie es um einen steht?"

An Bord der Schiffe, als ausgezeichnete Elektrotechnikerin, die ihre Maschinen kannte und die Arbeit liebte, hieß sie bei den meisten "die Alex". Was zählte war, dass sie ihren Beruf beherrschte. Als aber in den 1990er Jahren das große "Ausflaggen" begann und auch die Schiffe ihrer Reederei nicht mehr unter deutscher Flagge fuhreb, sondern billigere Arbeitskräfte angeheuert wurden, hieß es, sich in Deutschland an Land neue Arbeit zu suchen. Es wurde aus mehreren Gründen zur persönlichen Katastrophe.

Ihre Hormonpräparate musste sie sich auf dem Schwarzmarkt besorgen, da ihre deutsche Krankenkasse sich mit Verweis auf entsprechende Behandlungsrichtlinien weigerte, für die Kosten aufzukommen. Ohne jede ärztliche Begleitung zog sie die Hormonkur weiter durch. Doch als ihr an ihrer neuen Arbeitsstelle, einer großen Firma für Eismaschinen, aus fadenscheinigen Gründen gekündigt wurde, nachdem die Chefs ihr zu verstehen gegeben hatten, dass sie mit ihrer androgynen Erscheinung den Kunden nicht zumutbar sei, geriet sie erneut in einen verzweifelten Teufelskreis. Sie setzte alle Medikamente ab, versteckte den Busen, änderte die Frisur, versuchte noch einmal mit aller Gewalt, als Mann zu existieren und hätte das im Jahr 1998 um ein Haar bei einem Selbstmordversuch mit dem Leben bezahlt. Da endlich beschloss sie, aufs Ganze zu gehen und sich, mit all den vielen Bedingungen, die dafür erfüllt werden müssen, einer Operation zu unterziehen.

"'Rekonstruktion' heißt das", betont sie. "Die Entfernung meines männlichen Geschlechtteils war keine 'Geschlechtsumwandlung', sondern ein Akt, um meine Seele zu retten, sie endlich richtig nach außen repräsentieren zu können." Insgesamt 14 Eingriffe waren nötig und zuvor über ein Jahr psychologische Behandlung, damit rechtlich rundherum sicher gestellt sei, dass kein anderer Weg gangbar wäre. So sehr die lange psychologische Betreuung auch ihre Geduld strapazierte, es war immerhin das erste Mal, dass sie deutschen Ärzten gegenüber deutlich über ihr Problem sprach. "Ich hörte auf, gegen mich selbst zu kämpfen, ich hörte endlich mit diesem auf Selbstvernichtung hinauslaufenden Kampf auf!"

Schließlich ließ sie auch ihren Namen ändern. In Personal- und Sozialversicherungsausweis steht nun kein männlicher Vorname mehr, sondern "Alexandra". 2.200 Euro zahlte sie für diese Prozedur. Seit sieben Jahren trägt sie nun auch in der Öffentlichkeit weibliche Kleidung, nicht gerade das "kleine Schwarze", aber doch Blusen und Hosen aus der Damenabteilung und gerne auch Röcke und bunte Strumpfhosen. Für ihr Privatleben war das alles unbestritten gut. Ihr Freundeskreis schrumpfte nicht endgültig zusammen, er wuchs "riesig" an, seit sie ihr großes Geheimnis preisgegeben hatte. "Jetzt weiß ich, dass die Menschen, die mich mögen, auch wissen, mit wem sie es zu tun haben."

Was aber die Arbeit betraf, da hatte sich kein Stück geändert. Aus Angst, eine Stelle in der Metzgerei einer bekannten Supermarktkette als Frau nicht zugesprochen zu bekommen, bewarb sie sich - eigentlich wider besseres Wissen - als Mann. "Transsexuell und der Arbeitgeber einen Metzgereibetrieb - das wird doch nie was, dachte ich." Aufgrund ihrer breiten Kenntnisse rund um Elektrotechnik und Maschinenbau wurde sie sofort angenommen, doch nun begann - zum letzten Mal - das Abtauchen in den "Tarnmodus". Auch körperlich inzwischen eine Frau, übernahm sie am Arbeitsplatz wieder die Männerrolle, wandte sich beim Umziehen in der Männerkabine ab, betonte ihre dunkle Stimme, begann das ganze unerträgliche Spiel von Neuem.

Nach wenigen Monaten dann bestand sie vor der Geschäftsleitung mit Verweis auf ihre Papiere darauf, als transsexuelle Frau anerkannt zu werden, mit der Folge, dass ihr verboten wurde, die Damentoilette zu benutzen. Sie wiederum weigerte sich, eine spezielle, extra für sie eingerichtete Toilette zu betreten und so kam es, wie es kommen musste: Nach zwei Jahren war ein Kündigungsgrund gefunden. "Und ich hatte da einfach nicht mehr die Kraft, per Gerichtsbeschluss dagegen anzugehen."

Also vorläufig wieder arbeitslos. Alexandra Galle nutzte die Zeit, um sich einer Operation der Stimmbänder zu unterziehen. Zehn Monate lang konnte sie nicht sprechen und zerkritzelte unzählige Schreibtafeln in Gesprächen mit ihren Freunden. Dunkel ist ihre Stimme immer noch, und dass sie weiterhin Blicke auf sich zieht als Frau mit so großer Gestalt, den kräftigen Schultern, dem durchaus männlichen geschnittenen Gesicht, daran wird sich wohl nichts ändern. "Na und?", sagt sie. "In Bad Eilsen komme ich gut klar. Die Leute kennen mich, manche sprechen mich sogar einfach so an und sagen, dass sie richtig finden, was ich mache." Als ein Freund sie mal auf dem Schützenfest gegen einen Stänkerei verteidigte, war das ein sehr gutes Gefühl.

Was fehlt, ist eine neue Arbeitsstelle. Obwohl sie eine hochqualifizierte Fachkraft ist, würde sie "jeden Job" annehmen. Was ebenfalls fehlt, wäre eine Liebesgeschichte, ja. "Natürlich gab es immer den einen oder anderen Mann, der mir gefiel", sagt sie. "Doch was muss das für ein großartiger Mensch sein, der mit mir zusammenleben könnte. Er müsste sich ja selbst den vielen Vorurteilen stellen, im Schützenverein, am Stammtisch, unter den Freunden. Ob es so einen wohl gibt?"

Sie tritt so selbstverständlich auf, ist witzig, geistreich und voller angenehmer Selbstironie. Wer länger mit ihr zusammen ist, vergisst, dass hinter ihrem heutigen Auftreten eine so große, dramatische Anstrengung lag. "Wenn ich von meinem Leben erzähle, dann erscheint es den meisten Menschen als 'Leidensweg'", sagt sie. "Und natürlich haben sie irgendwie recht. Aber ich will es eigentlich nicht so nennen. Schließlich war es auch der Weg zu mir selbst."

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